Das „Steigerlied“ vor einem nordirischen Schloss, die Europapokal-Hymne beim Einlaufen: Der deutsche Drittligist Erzgebirge Aue schrieb am Samstag ein fast vergessenes Kapitel europäischer Fußballgeschichte zu Ende.

Über 1000 Fans begleiteten die Sachsen nämlich Nordirland zum Auswärtsspiel beim FC Glenavon – zu einem Spiel, das bereits vor 65 Jahren stattfinden sollte. „Es ging nie um das Ergebnis“, kommentierte Glenavon-Präsident Glenn Emerson nach der Partie: „Wir haben Geschichte nachgeholt.“

Was war passiert?

Dafür ist eine Zeitreise notwendig – und zwar in die 60er Jahre. Sowohl für den FC Glenavon als auch der Fußballklub aus Aue waren auf dem Höhepunkt ihrer Vereinsgeschichte. Glenavon – gegründet 1889 – hatte seine erfolgreichste Zeit erlebte der Klub in den 1950er und frühen 1960er Jahren, als man insgesamt 14 Titel gewann, darunter alle drei Meistertitel. 1965 war man damit sogar für den Europapokal der Landesmeister qualifiziert. Die Geschichte der Auer ist allerdings noch etwas spektakulärer: Denn offiziell war die Mannschaft zwischen 1954 und 1963 eine Abteilung der Sektion Fußball des SC Wismut Karl-Marx-Stadt. Doch man setzte im DDR-Staat durch, dass man weiter im heimischen Otto-Grotewohl-Stadion spielen konnten. Blieb also trotz allem Aue. In dieser Zeit gewann der wandernde Verein drei Meisterschaften und einen Pokalsieg. War 1965 deswegen auch für den Europapokal der Landesmeister qualifiziert.

1960 hatte sich jedoch auch der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt befunden. Was wiederum auch vor dem Fußball nicht halt machte: Die britische Botschaft verweigerte deswegen den DDR-Spielern das Visum für Nordirland, die Spieler Glenavon wiederum durften nicht in die DDR einreisen. Ein ordentliches Aufeinandertreffen war so nicht möglich. Doch die UEFA wollte die Partei trotz allem nicht aufgeben und schlug als Kompromiss zwei Spiele auf neutralem Boden vor. Das aber war Glenavon zu teuer, man verzichtete und schied freiwillig aus dem Wettbewerb aus. Wismut Aue zog kampflos in die nächste Runde ein, in der man jedoch Rapid Wien unterlag.

Aue qualifizierte sich in der Folgezeit noch zwei Mal für den UEFA-Pokal. Nach der Wiedervereinigung wurde der Verein von Wismut Aue in Erzgebirge Aue umbenannt, man spielte lange zweit- und ist heute drittklassig unterwegs, gehört hinter RB Leipzig neben Dynamo Dresden und vor dem langjährigen Rivalen aus Chemnitz, der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, zu den besten Mannschaften Sachsens.

Der Glenavon FC verlor nach den glohrreichen 50er und 60er Jahren ebenfalls lange den Anschluss an die nordirische Fußball-Elite, hat aber inzwischen wieder aufgeschlossen und konnte sich in den letzten Jahren immer mal wieder zumindest für die Vorrunden internationaler Wettbewerbe qualifizieren, mit 2014 und 2016 konnte er in den letzten 15 Jahren zudem zweimal den nordirischen Fußballpokal gewinnen.

Womit wir wieder im Hier und Jetzt wären – und damit beim nachgeholten Europapokalspiel. Wie bitte kam es zu diesem Duell? Viele Jahre, ja Jahrzehnte habe niemand mehr an das ausgefallene Spiel gedacht, berichtete Glenavon-Präsident Emerson nach dem Spiel. Dann jedoch hätten sein Fanbeauftragte Adam Carson „und ein paar andere Jungs diese Idee gehabt: ‚Was wäre, wenn?‘ So fing alles an.“ Carson suchte über soziale Medien den Austausch mit Auer Fans. Die waren ebenfalls von der Idee begeistert und gemeinsam machte man sich an die Umsetzung. Vor 65 Jahren wäre das unmöglich gewesen, jetzt hatten sie Erfolg: Bereits 2023 hatte so das Hinspiel im Erzgebirgsstadion „nachgeholt“ werden können. Aue gewann 5:0.

Beim Rückspiel im historischen Mourneview Park, in dem seit 1895 Fußballspiele ausgetragen werden, wurde dieses historische Ereignis nun – zurecht! – mit noch größerem Aufwand gefeiert. Neben musikalischem Rahmenprogramm sorgte dabei vor allem der Auftritt der rund 300 Violet Bikers, Aues Motorrad-Fanclub, für Aufsehen. In der Stadt gab es vor dem Anstoß dann auch noch eine Parade. Fehlen durften auch die Spieler von 1960 nicht – sie waren als Ehrengäste dabei. Und sichtlich gerührt davon, das, wie man so schön sagt, noch erleben zu dürfen.

Sportlich lief es für die Gäste aus Sachsen übrigens auch beim Rückspiel gut: Aue siegte mit 2:0. Neuzugang Erik Weinhauer traf doppelt (27., 43.), Torhüter Max Uhlig, ein Eigengewächs, sicherte sich mit einigen starken Aktionen die Null für die Mannschaft von Jens Härtel. Aber ehrlich gesagt ist das eher eine Randnotiz dieser außergewöhnlichen Geschichte.

Denn die zeigt: Grenzen können verrückt werden, weil Menschen etwas finden können, was sie gegen alle Widerstände verbindet. Freundschaften können so Feindschaften überwinden. Und wenn der Fußball uns allen auf diese Weise helfen kann, dann ist das doch das Schönste überhaupt.

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Von admin