Manchmal schreibt der Fußball rund um einzelne Spiele ganz besondere Geschichten – absurd oder bewegend. Auf FanLeben.de rekonstruieren wir diese Geschichten und halten so die Erinnerung am Leben. Nachdem wir bislang über das Spiel Barbados und Grenada 1994, bei dem beide Mannschaft unbedingt ein Eigentor erzielen wollten, sowie über die Rückkehr von Erzgebirge Aue auf die internationale Bühne berichtet haben, geht es heute um die torreichste Begegnung aller Zeiten. Wir machen eine Zeitreise ins Jahr 2002 und reisen örtlich nach Madagaskar. Los gehts!
SOE Antananarivo, kurz SOE, war zu dieser Zeit eine der besten Mannschaften Madagaskars. 2001 hatte SOE die Meisterschaft gewonnen,an der Seitenlinie stand der bis dato hoch angesehenen Trainers Ratsimandresy Ratsarazaka – und so lag das Team auch 2002 wieder gut im Titelrennen. Doch dann kam das entscheidende Spiel gegen Dema Soa am vorletzten Spieltag. Eigentlich ein Pflichtsieg, doch es war eng, nervös, umkämpft. Als die Nachspielzeit anfing, stand es 2:1 – ein Ergebnis, mit dem SOE am letzten Spieltag weiter gute Chancen auf die Meisterschaft gehabt hätte.
Dann aber pfiff der Schiedsrichter. Elfmeter für Dema Soa. Der Pfiff kam wie gesagt äußert spät, das Foul war hoch umstritten, einen Videobeweis aber gab es damals ja noch lange nicht. Also tatsächlich Elfmeter. Und den verwandelte Dema Soa Das Spiel endete damit 2:2. Zu wenig für die Titelträume von SOE Antananarivo. AS Adema, der große Konkurrent, war nun uneinholbar vorne, die Meisterschaft entschieden.
Bei SOE war man nicht nur enttäuscht – man war sauer. Dabei ging es nicht nur um den sportlichen Rückschlag, da war, nach dem umstrittenen Elfmeter, vor allem das Gefühl, betrogen worden zu sein. Nicht zum ersten Mal. Viele Spieler und ihr Trainer waren überzeugt, dass in Madagaskars Fußball nicht immer auf dem Platz entschieden wurde. Es sei ein „System, in dem Beziehungen, nicht Leistungen zählten“, kommentierte Trainer Ratsarazaka später. Er und seine Mannschaft wollten darum ein Zeichen setzen.
Und die Gelegenheit dazu gab es schon drei Tage später, am letzten Spieltag. Da musste SOE Antananarivo nämlich gegen AS Adema antreten. Also ausgerechnet gegen den damit bereits feststehenden Meister, was noch einmal mehr für eine emotionale Ausnahmesituation rund um SOE Antananarivo sorgte. Ratsimandresy Ratsarazaka und seine Mannschaft hatten sich für das Aufeinandertreffen eine ganz besondere Taktik zurechtgelegt: Radikalen Protest.
Und der sah so aus: Die Mannschaften liefen auf, der Anpfiff ertönte und nur Sekunden später fiel das erste Tor. Ein Eigentor von SOE. Wenige Sekunden später: das nächste. Und noch eins. Und noch eins.
Die Spieler von SOE Antananarivo schossen 149-mal den Ball ins eigene Tor. Und das in gerade einmal 90 Minuten – eigentlich auch eine reichlich beachtliche Leistung. Die Spieler von AS Adema standen jedenfalls fassungslos auf dem Feld. Die Zuschauer im Stadion in Toamasina schrien, lachten, buhten. Der Schiedsrichter konnte nichts tun. Es steht ja nirgendwo direkt in den Regeln festgeschrieben, dass es verboten ist, durchgängig Eigentore zu erzielen.
Trotzdem: Was da auf dem Feld geschah, war kein Spiel, sondern eine öffentliche Anklage. Andere Sagen: Ein Akt der Verzweiflung. Das Guiness Buch sagt: Weltrekord. Und der Fußballverband von Madagaskar fand: Eine Ohrfeige für alle, die Fußball als fairen Wettbewerb verstehen.
Deswegen griff der Verband hart durch: Trainer Ratsimandresy wurde bis 2005 gesperrt. Vier Nationalspieler, darunter Kapitän Mamisoa Razafindrakoto, erhielten ebenfalls mehrjährige Sperren.
Doch viele in Madagaskar hatten Verständnis. Sie ärgerten sich auch über die Zustände in ihrem Fußballverband: Fehlende Professionalität, fehlende Transparenz, Unsicherheit darüber, ob strittige Schiedsrichterentscheidungen wirklich immer nur sportlich begründet sind. Das Fazit der Fans: Der Protest war nicht schön, nicht sportlich, aber er war ein Weckruf.
Und immerhin: Ein so breites mediales Echo hatten Verband und Liga auf Madagaskar seither kaum.
SOE Antananarivo rutschte nach dem Skandalspiel übrigens sogar noch auf den dritten Platz in der Meisterschaftsrunde ab und durfte trotz des Skandalspiels auch im kommenden Jahr wieder an der Liga teilnehmen, verpasste aber erneut knapp die Meisterschaft – dieses Mal dann aber immerhin wieder auf Platz zwei.
In den Jahren nach dem Skandalspiel professionalisierte sich der Fußball auf Madagaskar dann schrittweise: Strukturen wurden reformiert, die nationale Liga stabilisiert und das Vertrauen in den Verband gestärkt. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war das überraschende Erreichen des Halbfinals beim Afrika-Cup 2019 – ein historischer Erfolg für das Land.
Bei SOE Antananarivo profitiert man davon jedoch nicht mehr: Ende der 2010er Jahre löste sich die Fußballabteilung von SOE vollständig auf.