In Deutschland leben fast acht Millionen schwerbehinderte Menschen, die Zahl wird steigen. Die Frage, wie mit behinderten Fans umgegangen wird, ist also von extremer Bedeutung für einen Sport, der für sich in Anspruch nimmt, nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft zu sein, sondern auch als postive Kraft auf sie einzuwirken.
Beginnen wir mit der harten Realität: Das Westfalenstadion in Dortmund bietet Platz für 81.365 Zuschauer*innen und obwohl damit gesetzlich 425 Rollstuhlplätze vorgeschrieben wären, gibt es beim BVB nur 72 Plätze für Rollstuhlfahrer*innen. Davon sind 45 über Dauerkarten vergeben. Vielen Betroffenen bleibt das Live-Erlebnis Bundesliga in Dortmund damit verwehrt. Nicht mal den Wunsch nach einer Tauschbörse hat der Verein erfüllt.
Das Beispiel der Borussia ist krass. Aber es ist kein Einzelfall – im Gegenteil: Obwohl die Bundesliga sich gerne inklusiv gibt und Vielfaltsspieltage als Mottoevents veranstaltet, bieten auch im Jahr 2025 noch alle Spitzenklubs Rollstuhlfahrer*innenn zu wenig Platz. Damit verstoßen sie gegen die Gebote der Fairness, der Inklusion – und ignorieren sogar geltendes Recht.
Denn den barrierefreien Zugang zu Veranstaltungen regelt in Deutschland die Muster-Versammlungsstättenverordnung, die dreizehn von sechzehn Bundesländer übernommen haben. In Stadien von bis zu 5.000 Plätzen müssen demnach mindestens 1%, bei höherer Kapazität mindestens 0,5 Prozent der Plätze für Rollstuhlfahrer zur Verfügung stehen. Was das für den BVB bedeuten würde steht oben. Für die beiden Bundesligen insgesamt hieße das sogar rund 7.400 Rolli-Plätze. Es gibt aber nur knapp 3.200. Die bittere Realität ist: Aktuell erfüllt kein einziges Stadion die Anforderungen.
So viel zur inszenierten DFL-Vielfalt.
Das Thema ist in Dortmund lange bekannt. Der BVB wird regelmäßig von seinen eigenen Fans und unabhängigen Behindertenorganisationen dafür kritisiert. Aber nicht nur das: Auch die UEFA machte im letzten Jahr Druck, weil sie eine barrierefreie Euro 2024 versprochen hatte. Sie stellte sogar sicher, dass kurzfristig nachgerüstet wurde. Für die EM wurden in Dortmund die Rollstuhlplätze verdoppelt.
Doch nach dem Turnier hat der Verein sie wieder zurückgebaut. Der BVB begründet das mit der alten Bausubstanz des 1974 errichteten Stadions. Expert*innen halten das – wenig überraschend – für, wenn man es freundlich formulieren möchte, vorgeschoben. Denn an seinem Stadion tüftelt Borussia Dortmund immer mal wieder: Zuletzt wurde 2015 auf der Westtribüne ein neues Zentralfoyer mit VIP-Bereichen gebaut. Im vierten Obergeschoss wurde dabei sogar eine schicke Panoramaterrasse eingericht von der aus man entspannt auf das Naturschutzgebiet Bolmke schauen kann. Viele behinderte Fans wären währenddessen froh, wenn sie wenigstens das Spielfeld sehen könnten.
Aber auch hier ist der BVB kein Einzelfall. Rückgebaut wurden die Plätze auch in anderen EM-Städten, konkret in Köln, Düsseldorf, Leipzig und auf Schalke. So verschwand von 454 zusätzlichen Plätzen die Hälfte. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sagt, er habe bei Verantwortlichen nachgefragt. Die Antwort führt uns an den Kern des Problems: „Als Begründung wurde oft auf fehlende Wirtschaftlichkeit hingewiesen.“
Zählen Ticketeinnahmen also ernsthaft mehr als gleiche Zugangschancen für alle Menschen?
Und wenn ja: Kann man da denn nichts gegen machen?
Die gute Nachricht ist: In ihrer Lizenzierung fordert die DFL eine inklusive Stadion-Infrastruktur explizit ein. Aber – zu früh gefreut – sie lässt immer wieder Ausnahmegenehmigungen zu, wenn Baubehörden ein Auge zudrücken. Und die Vereine berufen sich auf Bestandsschutz, wenn sie eigentlich Mehreinnahmen von gepolsterten Sitzplätzen gegenüber den oft vergünstigten Rollstuhlplätzen, auf die immer auch eine Begleitperson mitgebracht werden darf, meinen. Und die DFL? Die plant lieber den nächsten Aktionstag für Barrierefreiheit statt für Barrierefreiheit in den Stadien zu sorgen. Denn das mehr Rollstuhlplätze sofort möglich wären, wenn die DFL ihre eigenen Lizenzierungskriterien umsetzen würde, ist nach der EM im letzten Jahr eindeutig unstrittig.
Immerhin nähern sich manche Städte dem Soll an. In Berlin, München (324 Plätze), Stuttgart (201) und Hamburg (130) blieben die von der Uefa geforderten Erweiterungen erhalten. In Berlin, wo man für Fans mit Rollatoren für drei Millionen Euro zusätzliche 348 Easy-Access-Plätze gebaut hat, gibt es ein neues Schienen-Bestuhlungssystem, dank dem die Rolli-Plätze (228) bei Bedarf zu normalen Sitzplätzen werden. Frankfurt (187) nutzt das auch. Und Preußen Münster wird bald in seinem neuen Stadion die gesetzliche Ein-Prozent-Regelung erfüllen – als einzige Ausnahme in den ersten beiden Ligen. Übrigens: Selbst Kult-Klub Union Berlin hat sich bislang nicht dazu bekannt, nach dem angekündigten Umbau der Alten Försterei die Rollstuhl-Regel einzuhalten. So viel also dazu.
Außerdem extrem wichtig: Bei Barrierefreiheit in Stadien geht es nicht nur um Rollstuhlfahrer. Nach wie vor gibt es auch zu wenig Angebote für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Gehörlose oder Menschen, die auf Assistenz angewiesen seien. Die Ticket- und Zahlungsprozesse sind zudem vielerorts unüberwindbar. Außerdem gibt es immer mehr Fans mit Rollatoren, die das Stadion als Ansammlung von Hürden beschreiben. Es bleibt also viel zu tun. Konkret zu tun, um genau zu sein.
Neben Preußen Münster ist ein weiteres positives Beispiel der FC St. Pauli mit seiner „inklusiven Kurve“. Ihr Ziel ist es, Stadionbesuche für Menschen mit Behinderung barrierefrei und mit echter Teilhabe zu ermöglichen – inklusive Sicht- und Hörangebote, spezielle Tickets und persönliche Betreuung. Dazu gehören 86 Rollstuhlplätze mit zusätzlichen Platz für Begleitpersonen, die kostenlos mitkommen können. Damit liegt der Hamburger Stadtteilklub allerdings auch deutlich unter der vorgesehenen Größenordnung. Dafür bietet er bei jedem Heimspiel zusätzlich 26 Tickets für Menschen mit Sehbinderung an. Hier erhalten die Fans leihweise Funk-Kopfhörer zur Live-Beschreibung via AFM-Radio. Begleitpersonen sind ebenfalls zugelassen. Außerdem gibt es acht Plätze, mit Dolmetscher*innen am Spielfeldrand für hörbehinderte Personen. Auch hier sind Begleitpersonen zugelassen und werden natürlich gemeinsam platziert. Zudem gibt es einen eigenen Fanbetreuer für Fans mit Behinderung, der bei Ticketbuchung, Anreise und Orientierung im Stadion hilft. Er unterstützt auch bei der Planung eventueller Auswärtsfahrten.
Solche Angebote sollten Standard werden – über die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben hinaus. Das sollte die DFL verbindlich in allen Stadien umsetzen, die Macht dazu hat sie im Lizenzierungsverfahren und sie sollte sie endlich nutzen statt Vielfalt weiter bloß als PR-Strategie zu missbrauchen.
Denn jeder Fan hat das Recht auf ein barrierefreies Stadionerlebnis. Nichts anderes darf der Anspruch im deutschen Fußball sein!