Vielleicht hat Erik ten Hag einfach das Problem, dass er hemmungslos überschätzt wird.

Denn ten Hag gilt seit einigen Jahren als extrem talentierter Trainer. Das war schon so, als der FC Bayern ten Hag 2013 von den Go Ahead Eagels loseiste, um ihn zum Trainer der eigenen zweiten Mannschaft zu machen. Ten Hag sagte zu, obwohl er mit den Niederländer gerade aus der zweiten in die erste Liga aufgestiegen war.

Am Bayern-Campus erfüllte ten Hag die Erwartungen. Den ganz großen Durchbruch beim Rekordmeister schaffte zwar keiner seiner Talente, aber mit Leopold Zingerle, heute bei RB Leipzig, Pierre Emil Hojbjerg, heute bei Olympique Marseille, oder auch Mitchell Weiser, heute bei Werder Bremen, formt er einige Spieler zu gestandenen Profis.

Damit fällt ten Hag weiter auf.

Nach eineinhalb Jahren zieht es ihn darum auch zurück in die Heimat, weil von da wieder ein Rekordmeister ruft: Ajax Amsterdam. Mit Ajax gewinnt ten Hag direkt in seiner ersten vollen Saison das Double aus Meisterschaft und Pokal. In der Champions League überstand man zudem eine Todes-Gruppe mit dem FC Bayern München, Benfica Lissabon und AEK Athen als Zweiter und setzte sich in den KO-Spielen sogar noch gegen Juventus Turin und den schier übermächtigen Titelverteidiger Real Madrid durch, bevor man im Halbfinale knapp und bitter gegen die Tottenham Hotspur ausschied. Als die Erendivision 2020 wegen der Corona-Pandemie abgebrochen wurde, stand Ajax wieder auf Platz eins. Auch 2021 und 2022 holte ten Hag mit seiner Mannschaft die Meisterschaft, 2021 auch wieder gemeinsam mit dem Pokal. Hinzu kommt: Frenkie de Jong, Donny van de Beek, Andre Onana und Matthjis de Ligt formte er dabei auch noch zu europaweit gefragten Stars und ermöglichte dem niederländischen Rekordmeister damit Rekordeinnahmen.

Damit schien ten Hag Ajax entwachsen. Und er wagte den nächsten großen Karriereschritt – nach England, zu Manchester United. Die Red Devilles suchten zu diesem Zeitpunkt schon seit fast zehn Jahren, konkret seit dem Renteneintritt von Rekordcoach Sir Alex Ferguson, nach einer neuen Identität. Und die sollte ten Hag liefern. Denn ten Hag ist nicht nur ein bekannter Talententwickler, eine Eigenschaft die bei ManUnited ohnehin eher weniger gefragt ist, sondern wird auch für seinen offensiven Spielstil, das schnelle, technisch-versierte und doch auch im Klopp-Stil von Einsatz gepräften, Spiel, das er mit Ajax regelrecht zelebrierte, gefeiert. Eine neue, eigenständige Spielidee – danach sehte man sich am Old Trafford.

Doch der Plan ging nicht auf. Manchester United befindet sich seit Jahren im Abwärtstrend. Der Kader ohne klares Konzept zusammen gekauft, viele Spieler über ihren Zenit und dabei nicht auf ten Hags Ideen ausgerichtet. Im ersten Jahr, 2023, gewinnt ten Hag immerhin den Ligapokal, 2024 sogar den FA-Cup. Trotzdem wackelt sein Stuhl, denn in der Liga kriselt es. Aber liegt das an ten Hag?

Am 28. Oktober 2024 wird der Niederländer entlassen und durch das portugisische Wunderkind Ruben Amorin ersetzt, der, ähnlich wie ten Hag mit Ajax, mit Sporting Lissabon alles in Portugal gewonnen hatte, was es auf nationaler Ebene zu gewinnen gibt. Doch auch unter Amorin geht die Talfahrt weiter, auch dem Portugisen gelingt es bis heute kaum, Manchester United zu stabilisieren. Vielleicht hätte ten Hag auch mehr Zeit und ein Management gebraucht, das neben der Mannschaft auch die Strukturen des Vereins nachhaltig weiter entwickelt? Diese Chance hat er nicht bekommen.

Auch deswegen hat der Ruf von Erik ten Hag in der Branche offenkundig kaum gelitten – im Gegenteil: Bayer Leverkusen hat ihn früh als Xabi-Alonso-Nachfolger auserkoren, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis seine Verpflichtung offiziell wurde. Die Werkself passt, zumindest auf dem Papier, dabei auch wieder ideal zu ten Hag: Eine Mannschat, die für dominanten, Ballbesitz-orientierten Fußball steht, dabei auf viele junge Spieler setzt, die ten Hag entwickeln kann und gleichzeitig genug Qualität haben sollte, um tatsächlich oben mitzuspielen.

Aber – ähnlich wie bei Manchester United – könnte ten Hag erneut zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Denn mit Florian Wirt, Jeremie Frimpong, Jonathan Tah hat die Bayer-11 drei absolute Führungsspieler verloren, mit Granit Xhaka jetzt auch noch ihren Mittelfeldstrategen an den AFC Sunderland verkauft und auch Kapitän Lukas Hradecky, Torwart der Double-Mannschaft 2024, steht vor seinem Abgang zum AS Monaco. Für Amine Adli gibt es Anfagen aus England.

Der Umbruch ist also gigantisch, ten Hag fehlt ein gesamtes Gerüst. Als gestandender Neuzugang steht bislang nur Mark Flekken als neue Nummer eins fest. Die weiteren prominenten Neuzugänge, Malik Tilmann, Jarell Quansah und Ibrahim Maza, müssen erst zeigen, dass sie in der Bundesliga und als Führungsspieler bestehen können. Farid Alfa-Ruprecht, Christian Kofane, Christian Kofane, Issa Traore, der erst nach seinem 18. Geburtstag im Januar zur Werkself kommen wird, sowie Axel Tape, der als Bankspieler letzte Saison immerhin die Champions League mit Paris St. Germain gewonnen hat, sind die weiteren bereits fest-stehenden Neuzugänge – und allesamt Talente. Vielversprechende zwar, aber gleichzeitig noch nicht so weit, als dass sie sicher die entstandenen Lücken sofort schließen könnten.

Ten Hag weiß das. Er sagt: „Wir müssen wir eine gute Mannschaft bauen. Wir haben eine Herausforderung für alle: die Mannschaft, das Trainerteam, alle, die beteiligt sind, bis zum Vorstand. Wir werden eine neue Ära bauen müssen.“

Doch er sagt auch: „Wir wissen, dass es Zeit brauchen wird, eine komplett neue Mannschaft aufzubauen. Daran werden wir arbeiten. Die ersten Umrisse sind erkennbar, und die müssen wir nun weiter ausbauen“, sagte ten Hag, um dann unmissverständlich zu erklären: „Denn es gibt noch viele Schwachstellen. Auf einigen Positionen müssen wir uns noch verstärken, um das Ziel – unter die ersten Vier zu kommen – zu erreichen.“ Sein Fazit: „Vier bis fünf Spieler müssen noch dazukommen.“

Bislang hat Simon Rolfes, ten Hags neuer Sport-Geschäftsführer, es stets geschafft, auch prominente Abgänge als Chance zu begreifen und den Kader der Werkself mit den entsprechenden Einnahmen weiterzuentwickeln. „Die Kai-Havertz-Millionen“, sagte Rolfes einmal über den Transfer des deutschen Nationalspielers nach London, „haben die Doublesaison erst ermöglicht, weil wir mit dem Geld unsere Mannschaft gezielt entwickeln konnten.“

Doch das brauchte Zeit. Bayer Leverkusen darf nicht den Fehler machen zu erwarten, dass es sofort rund läuft. Das kann kein Trainer garantieren – auch Erik ten Hag nicht.

Doch mit ten Hag hat Bayer Leverkusen den passenden Trainer für den Aufbau einer Mannschaft – insbesondere wenn, wie in Leverkusen, junge Spieler entwickelt werden sollen.

Jetzt liegt es aber an Simon Rolfes: Er muss seinem Trainer schnell die fehlenden Wunschspieler zu besorgen. Aber vor allem muss er ihm die notwendige Zeit geben, um die Mannschaft aufzubauen.

Wenn Rolfes ten Hag nicht überschätzt, sondern realistisch bewerter, dann kann der Umbruch klappen.

Und wenn er klappt, ist Bayer Leverkusen tatsächlich als Topklub in Deutschland etabliert.

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Von admin