Immer wieder geraten besondere Vereine in tiefe Krisen, stürzen ab und die Fußballwelt fragt sich: Wie konnte es dazu kommen? In Deutschland geht es vielen Traditionsvereinen so. Doch darüber wird an vielen Stellen schon ausführlich diskutiert. Hier auf FanLeben.de schauen wir deswegen ins Ausland und widmen uns in detaillierten Recherchen der bitteren Realität von Vereinen, die wir im internationalen Fußball heute vermissen. Im ersten Teil der Serie ging es um Vitesse Arnheim, im zweiten Teil folgte Bursaspor, im dritten der FC Malaga und im vierten Wacker Innsbruck. Heute geht es in die vielleicht größte Traditionsstadt im Fußball überhaupt.
Sheffield Wednesday – mit diesem Namen verbinden viele Fußballfans etwas.
Die Geschichte beginnt am 4. September 1867 in Sheffield. Junge Männer treffen sich, um miteinander Cricket zu spielen. Doch die etablierte Sportart hat einen Nachteil: Die Partien dauern viele Stunden, manchmal sogar ganze Tage. Cricket, das merken die Männer rasch, ist darum kein Sport für die Herbst- und Wintermonate, wenn die Tage kürzer werden. Darum suchen sie nach einer Alternative. Und finden sie im Fußball.
Fußball wird in Sheffield zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren gespielt. Der Sheffield Football Club, gegründet 1857, ist heute der älteste noch bestehende Fußballverein der Welt. Mit Sheffield Wednesday bekommt er jetzt einen Lokalrivalen. Und ja, es stimmt: Der 4. September 1867 war ein Mittwoch, der Name des Vereins stammt also tatsächlich von dem Wochentag, an dem sich der Vereine offiziell begründete.
Doch nicht nur diese Anekdote macht Sheffield Wednesday bis heute berühmt. Der Verein wird schnell erfolgreich: 1896 gewinnt der Klub zum ersten Mal den FA Cup. Zwei weitere Titel, 1907 und 1935, folgen. Auch vier Meisterschaften kann Sheffield Wednesday holen: 1903, 1904, 1929 und 1930. Lange her. Doch konstant erfolgreich wird Sheffield nie: 1920 steigt der Verein erstmals aus der First Division, der damals höchsten Spielklasse in England, ab. In der Folge wird man zur Fahrstuhlmannschaft. Erst ab 1959 kann sich Sheffield Wednesday wieder mehr als ein Jahrzehnt in der ersten Liga halten. In dieser Zeit ist man auch international gefragt und nimmt unter anderem am renommierten Messestadtpokal teil, wo man immerhin Olympique Lyon und den AS Rom ausschaltete, bevor man gegen den FC Barcelona ausschied.
1970 stieg man wieder aus der ersten Liga ab und kehrte erst 14 Jahre später zurück, zwischenzeitlich stürzte man sogar bis in die dritte Liga. 1989 ging es wieder runter, 1990 wieder rauf. In den folgenden 13 Jahren Erstklassigkeit nahm Sheffield Wednesday am UEFA Cup, erreichte noch einmal das Finale des FA Cups, das sie erst im Wiederholungsspiel gegen den FC Arsenal verloren, und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Premier League, wie die erste englische Liga seit 1992 heißt.
Doch für noch etwas erlangte Sheffield Wednesday traurige Bekanntheit: Der Klub spielt im Hillsborough-Stadion mit einer Kapazität von circa vierzigtausend Sitzplätzen. Das Stadion ist bekannt durch die große Stadionkatastrophe vom 15. April 1989, in der 96 Menschen an Absperrgittern zum Spielfeld zerquetscht wurden, als viele tausend Fußballfans auf die Tribüne drängten, was eine Massenpanik auslöste. Seitdem wurden die Zäune in sämtlichen englischen Fußballstadien entfernt und in der Premier League sind nur noch Sitzplätze zugelassen. Verantwortlich für die Katastrophe waren, davon ist man heute überzeugt, die Sicherheitskräfte in Sheffield, welche die Gefahr nicht schnell genug erkannten. Hätten sie die Zäune geöffnet, wäre es wohl nicht zu Todesopfern gekommen. Die Fans, die in Panik gerieten, trifft keine Schuld, auch wenn ihnen viel zu lange Vorwürfe gemacht wurden.
2003 stieg Sheffield Wednesday endgültig aus der Premier League ab. Seitdem pendelt man zwischen der Zweit- und Drittklassigkeit. 2015 dann noch ein Wendepunkt: Der Thailänder Dejphon Chansiri kaufte den Verein. Bis heute ist er der Eigentümer von Sheffield Wednesday. Und damit können wir über die aktuelle Situation in der bedeutendsten Fußballtraditionsstadt reden.
Denn die hat sich in den letzten Monaten zu einer existenziellen Krise entwickelt. Im Juni hat der englische Ligaverband gegen Sheffield Wednesday eine Transfersperre verhängt, da der Klub Ablösesummen und Spielergehälter nicht bezahlt haben soll. Einschließlich des laufenden Sommers darf Wednesday in den nächsten drei Wechselperioden kein Geld für Transfers ausgeben. Auch aktuell sind Gehälter wohl offen. Außerdem beklagen die Profis eine vollkommen unzureichende Kommunikation seitens der Vereinsführung. Vor wenigen Tagen hatten sich die Spieler deswegen sogar geweigert, bei einem Freundschaftsspiel gegen den FC Burnley aufzulaufen. Eine außergewöhnliche Situation – wie sie selber in einem offenen Brief einräumen: „Die Entscheidung der Spieler, vom geplanten Freundschaftsspiel gegen Burnley fernzubleiben, wurde nicht leichtfertig oder ohne Überlegung getroffen“, hieß es in dem Schreiben der Spieler. „Wir sind uns der zusätzlichen Sorge bewusst, die dies bei den Fans ausgelöst hat, vertrauen jedoch darauf, dass sie Verständnis für die schwierige Lage haben, in die wir geraten sind.“
Doch der Streik könnte weitergehen – und dabei auch die jetzt beginnende Zweitligasaison betreffen, wie die Mannschaft klar macht: Denn in ihrem offenen Brief erklären die Spieler nicht nur, warum sie Testspiel gegen Burnley ausfallen ließen, sie fordern auch, „dass diese Situation so schnell wie möglich geklärt wird, damit Entscheidungen wie die, nicht in Burnley zu spielen, in Zukunft vermieden werden.“ Gemeint sind damit eben die offenen Gehälter, die längst den Alltag der Profis beeinflussen, wie sie erklären: „Wir sind äußerst besorgt über die Unklarheit, darüber, was gerade passiert und wann diese Situation gelöst sein wird.“ Im Training wolle man aber „so hart wie möglich arbeiten“.
Danny Röhl ist ein Grund, warum vielleicht auch jüngere Fans hierzulande Sheffield Wednesday kennen. Denn Röhl war Co-Trainer von Hansi Flick – erst beim FC Bayern, dann bei der deutschen Nationalmannschaft. Nach Flicks DFB-Aus übernahm er Sheffield als Trainer, seine erste Station als Cheftrainer überhaupt. Zweimal sicherte er dem Klub seitdem den Klassenerhalt in der zweiten Liga. In Anbetracht der Umstände eine beachtliche Leistung. Doch Röhl ist mittlerweile Vergangenheit bei Shefflied Wednesday: Er einigte sich aufgrund der finanziellen Krise mit der Vereinsführung auf eine sofortige Auflösung seines Vertrages – mitten in der Saisonvorbereitung.
Wie aber konnte es bitte zu einer solchen Krise an diesem Traditionsstandort kommen? Die Antwort ist Dejphon Chansiri. Schon im Jahr 2020 wurde Sheffield Wednesday vom englischen Fußballverband wegen Verstößen gegen das Financial Fair Play mit einem Punktabzug belegt. Chansiri hatte versucht, massive Verluste zu verschleiern, indem er den Stadionverkauf des Hillsborough-Geländes rückwirkend in die Bilanz eines früheren Geschäftsjahres einrechnete.
Obwohl der Verkauf offiziell erst später stattfand, wurde der Erlös in die Abrechnung nämlich für die Saison 2017/18 eingebucht – ein klarer Verstoß gegen die Buchhaltungsregeln des Verbandes. Ziel war es offenbar, das Finanzloch des Vereins zu kaschieren und dabei die Einhaltung der FFP-Grenzen künstlich darzustellen. Chansiri hat zahlreiche Trainer (darunter Carlos Carvalhal, Tony Pulis, Darren Moore und viele weitere) eingestellt und oft schnell wieder entlassen. Die meisten seiner Transfers zündeten nicht. Gleichzeitig verprellt der Thailänder die Fans des Traditionsvereins, in dem er unverschämt hohe Ticketpreise aufruft und stets den Fans die Schuld für seine Misserfolge gibt, was, rein wirtschaftlich betrachtet, Ticket- und Mechandising-Einnahmen in den Keller treibt.
Zu Beginn seiner Amtszeit kündigte Deiphon Chansiri große Investitionen an – und lieferte zuweilen auch. Doch längst hat er seinem Klub den Geldhahn zugedreht. Mehr noch: Das Hillsborough-Stadion verkaufte Chansiri an sich selbst, immer wieder macht der Verein Deals mit Unternehmen aus seinem Konsortium, was, nicht nur bei den Fans, den Verdacht nahelegt, dass er sich mittlerweile vor allem selbst an seinem Klub bereichert. In den Fankurven fragen die Anhänger*innen seit Monaten immer wieder: „Wo ist das ganze Geld?“ Denn selbst wenn man den personellen Verschleiß im Umfeld berücksichtigt, ist eine solche Finanzkrise eigentlich nicht zu erklären.
Zum aktuellen Spielerstreik äußert sich Deiphon Chansiri nicht.
Dafür sagt er, er sei bereit, Sheffield Wednesday zu verkaufen – für über 100 Millionen Euro. Weit mehr als das doppelte des Marktwertes.
Mehr gibt es dann ehrlicherweise auch gar nicht zu sagen.