Den besten Tag seines Lebens hatte Noel Urbaniak im März dieses Jahres.
Da war er Balljunge. Klar, für viele junge Fans ist dieser Job eine spannende Angelegenheit, immerhin ist man richtig nah dran am Feld und den Profis.
Aber bei Noel war es noch mal krasser. Er bereitete praktisch selbst einen Treffer vor – ein Tor der deutschen Männer-Nationalmannschaft: Deutschland bekam beim Nations-League-Halbfinalrückspiel gegen Italien in Dortmund in der 36. Minute einen Eckball zugesprochen. Italien-Keeper Gianluigi Donnarumma war unzufrieden mit seinen Vorderleuten und gestikulierte wild in der Strafraummitte stehend. Noel Urbaniak erkannte die Gunst des Augenblicks und warf den Ball direkt zu Kapitän Joshua Kimmich, der schnell reagierte und den Eckstoß in die Mitte auf Jamal Musiala brachte. Musiala erzielte unbedrängt das 2:0. Ohne Frage eines der kuriosesten Tore des Sportjahres.
Balljungen – das zeigt das Beispiel – können richtig wichtig werden für ein Spiel. Einer, der das aus beiden Perspektiven kennt, ist Umut Tohumcu, Bundesliga-Profi bei der TSG Hoffenheim. Tohumcu, heute 21 Jahre alt, war 2017 als Nachwuchsspieler selbst noch Balljunge in der Bundesliga. Beim Heimspiel gegen den FC Bayern half Tohumcu Mark Uth, einen Treffer zu erzielen, indem er Andrej Kramaric den Ball schnell zum Einwurf zuwarf. Kurios: Kramaric berichtete nach dem Spiel, dass er seinen heutigen Mitspieler damals „richtig angebrüllt“ hätte, „damit er mir schnell den Ball gibt“.
Ein Tor für die Nationalmannschaft, ein Tor gegen die Bayern – klar, dass viele Fußballfans diese Momente gerne erinnern. Aber natürlich hat diese Medaille zwei Seiten, denn alle, die schon einmal selbst Balljunge waren, wissen: Nur um Fairplay geht es dabei nicht. Die Kinder und Jugendlichen werden immer wieder auch zu Zeitspiel angehalten oder dazu, der Heimmannschaft schneller den Ball zurückzuspielen als den Gästen.
Auch dafür gibt es ein Beispiel: In der Bundesligasaison 2008/09 spielte der VfB Stuttgart auswärts bei Hannover 96 und lag kurz vor Schluss mit 1:0 zurück. Jens Lehmann war damals Torhüter der Stuttgarter und wollte, weil es schnell gehen sollte, selbst einen Einwurf ausführen. Der Balljunge, wie üblich ein Nachwuchsspieler von Hannover, warf den Ball jedoch über Lehmann hinweg, um auf Zeit zu spielen – was diesen zum Kochen brachte, er schrie das Kind regelrecht an. Nach dem Spiel brach der Nationaltorwart dann noch ein Interview zur Szene ab. Er müsse stattdessen „nach Hause, meine Kinder erziehen“. Aha.
Das Absurde ist: Bislang ist das alles so auch okay. Die FIFA schreibt für Balljungen bislang kaum verpflichtende Regeln vor. Nur so viel: Es müssen acht Balljungen rund um das Spielfeld platziert werden. Und das findet ja statt, immer und überall.
Die DFL will das bisherige Balljungenwesen jetzt aber trotzdem weiter professionalisieren. Ihre Idee: Aus Balljungen sollen Ballholer*innen werden. Und dann liefe es so: Die mindestens acht Ballholer*innen sollen jeweils für maximal drei Bälle verantwortlich sein. Insgesamt werden pro Partie nämlich mindestens 19 Spielgeräte eingesetzt: Ein Spielball sowie mindestens 14 weitere Bälle an den Längsseiten und vier Bälle hinter den Toren. Sobald sie einen Ball außerhalb des Spielfelds aufnehmen, sollen die Ballholer*innen ihn umgehend auf ein freies Markierungsplättchen zurücklegen. Dabei würde es ihnen streng untersagt, Bälle zurückzuhalten oder das Spielfeld zu betreten.
Joshua Kimmich könnte, wenn auf Ecke entschieden wird, direkt zur nächsten Markierung gehen und den Ball sofort hereinbringen – auch bei einem Auswärtsspiel, wo ihm die Balljungen vielleicht nicht so helfen würden wie Noel Urbaniak im Heimspiel gegen Italien. Andererseits würde es auch keine direkte Kommunikation zwischen Profis und Balljungen, wie zwischen Andrej Kramaric und Umut Tohumcu, während des Spiels mehr geben.
Die DFL empfiehlt den 36 Profiklubs das sogenannte Multiball-Konzept allerdings nur. Ihr Ziel ist es damit zwar, „die Fairness in der Bundesliga und 2. Bundesliga durch die schnellere Wiederaufnahme des Spiels und die Reduzierung des Zeitspiels zu fördern“. Heißt umgekehrt: Verpflichtend ist die Anwendung des Konzeptes für die Erst- und Zweitligamannschaften nicht. Sie können sich auch weiterhin auf die lockereren FIFA-Regeln berufen, wie gehabt Balljungen einsetzen – mit aller, na ja, Kreativität, die dazugehört. Ob und welche DFL-Mannschaften den Vorschlag übernehmen werden, ist noch nicht bekannt.
Die Entscheidung steht dabei symbolisch für eine Frage, die sich im Fußball immer wieder stellt: Wie viel Professionalität wollen wir – und wie viel Spiel, mit aller Kuriosität, die oft dazugehört, darf bleiben?