In wenigen Tagen geht es für Thomas Müller bei den Vancouver Whitecaps offiziell los. „Ein Feiertag“ werde das erste Heimspiel, ist Whitecaps-Geschäftsführer Axel Schuster überzeugt. Er rechnet damit, dass ab dann „jedes Heimspiel ausverkauft“ sein wird. Damit Thomas Müller und alle, die wegen ihm die US-Liga verfolgen werden, gut vorbereitet sind, gibt’s heute einmal die Geschichte des US-Fußballs – und die beginnt weit früher, als man denkt.
Gegründet im Herbst 1862 von einer Gruppe junger Männer aus der Boston Latin School, gilt der Oneida Football Club als der erste organisierte Fußballverein in den Vereinigten Staaten – ja sogar in ganz Nordamerika. 1857, also nur fünf Jahre vorher, wurde in Sheffield überhaupt erst der älteste Fußballverein der Welt gegründet: der Sheffield FC – in dem bis heute Amateurfußball gespielt wird.
Allerdings galten bei den Spielen des Oneida Football Club noch nicht die Regeln, die wir heute vom Fußball kennen. Stattdessen orientierten sie sich an einer Mischung verschiedener damals verbreiteter Schul- und College-Regeln aus Neuengland, die selbst noch im Entstehen begriffen waren. Das Spiel ähnelte in Teilen dem Rugby, wie es in britischen Public Schools gespielt wurde, erlaubte aber auch längere Dribblings mit dem Fuß und eine freiere Bewegung des Balls am Boden. Körperkontakt war in einem deutlich robusteren Maß erlaubt als im modernen Fußball, und die Grenze zwischen „Halten“ und „Foulen“ war – wie beim Rugby und dem späteren American Football – fließend. Auch gab es keine klar definierte Anzahl von Spielern pro Mannschaft, und die Spieldauer wurde eher nach Vereinbarung als nach fester Zeit gemessen. Naja. Immerhin: Das Ziel bestand darin, den Ball über eine definierte Linie oder zwischen zwei improvisierte Pfosten zu bringen. So wie heute.
Der Oneida Football Club gilt darum heute – wie gesagt – als erster Fußballverein überhaupt in den USA und hat gleichzeitig den Weg fürs American Football mitgeebnet. Ganz schön viel Geschichte für einen Verein, der kaum fünf Jahre existierte, bevor die Mitglieder, meist junge Männer, den Verein auflösten, da sie für das College ihre Heimatstadt verließen. Für die Entwicklung des Sports war das aber wichtig: Denn mit den Spielern zog auch die Idee ins Land. Und noch eine einzigartige historische Anekdote gibt es: Die Oneidas sollen in ihrer gesamten Vereinsgeschichte nämlich kein einziges Spiel verloren oder auch nur ein Gegentor kassiert haben – zumindest behaupteten es die Spieler später in ihren Erinnerungsberichten.
Und so ging die Geschichte des Sports dann weiter: Als erster bedeutender und eindeutiger Fußballverein der USA gelten darum heute dennoch die Fall River Rovers. Die Fall River Rovers entstanden im Jahr 1884 in der Industriestadt Fall River im Bundesstaat Massachusetts, einer Region, die im späten 19. Jahrhundert stark von Textilfabriken geprägt war. Der Verein ging aus einer Gemeinschaft von Arbeitern hervor, von denen viele aus Schottland, Irland und England stammten oder dort ihre Wurzeln hatten. Mit ihnen brachten sie die Begeisterung für den damals noch jungen „Association Football“ in die USA.
Gespielt haben die Rovers nach den 1863 in England festgelegten Fußballregeln, was sie also von den älteren, noch hybriden Football-Varianten wie denen der Oneidas unterscheidet. Die Spiele fanden zunächst dennoch auf einfachen, oft unebenen Plätzen in der Stadt statt, später auch auf etwas besser präparierten Feldern, die vor allem durch die Unterstützung lokaler Unternehmen und der Einwanderergemeinde ermöglicht wurden.
Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff „Soccer“ – anstelle des in England heute üblichen „Football“, was wir in Deutschland ja wörtlich mit „Fußball“ übersetzen: Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Begriff Soccer als „Spitzname“ für den „Assosciation Football“. Aus „Association“ wurde „Assoccer“ – und schließlich schlicht „Soccer“. Für die US-Spieler ein Glücksfall, denn Ende zu dieser Zeit, war „Football“ in den USA nämlich bereits vom rauen American Football besetzt. Also behielt man den britischen Spitznamen bei, um Verwechslungen zu vermeiden, während der Spitzname in England selbst rasch in Vergessenheit geriet.
Sportlich konnten die Fall River Rovers schnell überregionale Erfolge feiern. Sie gewannen mehrfach den American Cup, den zu jener Zeit wichtigsten Pokalwettbewerb des Landes, darunter die Titel in den Jahren 1888, 1889 und 1890. Darüber hinaus bestritten sie 1914 das erste Endspiel des neu eingeführten National Challenge Cup, dem späteren U.S. Open Cup, den sie nach einem Unentschieden im ersten Spiel im Wiederholungsspiel gegen den Brooklyn Field Club verloren.
Die Erfolge der Rovers machten sie zu einem sportlichen Aushängeschild ihrer Stadt und zu einem Symbol für den hohen spielerischen Standard, den Einwandererfußball in den USA schon damals erreichen konnte. In einer Zeit, in der Baseball als Nationalsport dominierte, bot der Fußball den Menschen in den Fabrikstädten Neuenglands vor allem aber auch eine kulturelle Heimat, die sie mit ihrer alten Welt verband und zugleich neue lokale Identität stiftete. Ähnlich wie das „Wunder von Bern“ in Deutschland verhalf der Fußball so auch in den USA sozialen Gruppen zu einem kollektiven Gründungsmoment.
Dabei waren die Fall River Rovers zwar der erfolgreichste Verein – in ihrer Rolle aber bei weitem kein Einzelfall: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in den USA, vor allem im Nordosten und im industriell geprägten Mittleren Westen, einige Dutzend organisierte Fußballvereine, die nach den Regeln des „Association Football“ spielten. Besonders konzentriert war die Szene in Neuengland, also in Massachusetts und Rhode Island, aber auch in New Jersey, Pennsylvania und Teilen von New York, wo Einwanderer aus Schottland, Irland, England und Mitteleuropa eigene Teams gründeten, wurde eifrig gekickt. Die meisten Mannschaften waren dabei aber eben auch fest in ihren lokalen Communities verwurzelt, oft als Freizeit- oder sogar als Werksclubs, und halfen bei der Integration.
Kurzum: Der Fußball gewann an Bedeutung in den USA. Aber bis zur Etablierung einer echten, landesweiten Profiliga sollte es noch knapp einhundert Jahre dauern, bis 1996 die Major League Soccer an den Start ging. Warum?
Der Hauptgrund liegt in der sportlichen Konkurrenz: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatten Baseball, American Football und später Basketball fest ihren Platz in der amerikanischen Sportkultur eingenommen und dominierten die Aufmerksamkeit von Medien, Sponsoren und Zuschauern. Fußball hingegen blieb vor allem in Einwanderergemeinden lebendig, konnte aber mit den etablierten Strukturen nicht konkurrieren. Die frühen Profi- oder Halbprofi-Ansätze, etwa die American Soccer League in den 1920er Jahren, litten deswegen unter finanzieller Instabilität, fehlender landesweiter Struktur und einem geringen Interesse außerhalb einzelner Ballungsräume. Hinzu kam, dass die USA im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern kein zusammenhängendes Vereins- und Verbandssystem mit Auf- und Abstieg entwickelten, wodurch ambitionierte Clubs nur begrenzte sportliche Perspektiven hatten. Auch wirtschaftliche Krisen wie die Große Depression oder später der Zweite Weltkrieg unterbrachen frühe Aufbauversuche immer wieder. Spätere Versuche, als in den 70er und 80er Jahren erstmals Weltstars wie Franz Beckenbauer, Pelé oder Gerd Müller gegen Ende ihrer Karriere in die USA gelockt wurden, scheiterten, weil ihr Prestige nicht genutzt wurde, um nachhaltige Strukturen aufzubauen, und auch finanzstarke Investoren schnell das Interesse verloren.
Die Gründung der Major League Soccer in den 1990er-Jahren war dann das Ergebnis einer Kombination aus internationalem Druck, politischem Kalkül und dem Bestreben, dem Fußball in den USA endlich eine stabile Profiliga zu geben. Der entscheidende Auslöser war die erfolgreiche Bewerbung der USA um die Ausrichtung der FIFA-Weltmeisterschaft 1994. Die FIFA knüpfte die Vergabe explizit an die Bedingung, dass im Gastgeberland eine nationale Profi-Fußballliga aufgebaut werden müsse, um die Entwicklung des Sports langfristig zu sichern. Die WM wurde ein beispielloser Erfolg: Mit 3,5 Millionen Zuschauer*innen in den Stadien kamen so viele Fans wie nie zuvor – und nie seitdem. Die MLS startete zwei Jahre später, 1996, also mit zehn Mannschaften und entsprechend viel Rückenwind.
Übrigens: Vor Thomas Müller spielten bereits 22 weitere Deutsche in der neuen Profiliga – zuerst Lothar Matthäus (ab 2000, New York MetroStars), später unter anderem Weltmeister Bastian Schweinsteiger (ab 2017, Chicago Fire) oder Hany Mukhtar, der seit 2020 in Nashville spielt und 2022 sogar als erster Deutscher zum MVP, also Most Valuable Player, gewählt wurde. Und mit Marcel Hartel und Timo Baumgartl spielen sogar zwei Deutsche in der MLS, die 1996 geboren wurden – also im selben Jahr wie die MLS.