Eigentlich haben alle damit gerechnet, dass Paul Wanner das nächste große Eigengewächs werden, der nächste Spieler vom Bayern-Campus, der eine Weltkarriere hinlegt. Der Spieler, der vielleicht sogar den Platz von Thomas Müller einnehmen könnte, der nach 25 Jahren bei den Münchenern jetzt gehen musste und nach Vancouver wechselte.
In den letzten beiden Jahren wurde Wanner auf diesen Weg vorbereitet. Ab 2023 spielte er für ein Jahr beim SV Elversberg in der zweiten Liga. Bis auf die zwei Spiele, die er angeschlagen oder erkrankt verpasst hat, wurde er immer da von Horst Steffen immer eingesetzt, erzielte sechs Tore und bereitete drei weitere vor – obwohl er in dieser Saison sogar noch in der A-Jugend hätte spielen können. Dann, im Sommer 2024, ging es folgerichtig in der Bundesliga weiter. Vom FC Bayern wurde Paul Wanner erneut ausgeliehen, dieses Mal an den 1. FC Heidenheim, der immerhin auch an der Conference League teilnahm, für Wanner also die Möglichkeit, sich auch an englische Wochen zu gewöhnen. Seine Entwicklung stockte etwas, trotzdem wurde er 29 mal in der Bundesliga und sieben Mal in der Conference League eingesetzt, spielte auch in beiden Relegationsspielen der Heidenheimer gegen die alten Kollegen aus Elversberg und bereitete im Kampf um den Klassenerhalt sogar einen Treffer vor. Inklusive DFB-Pokal kam Wanner so auf 10 Torbeteiligungen in 41 Spielen. Weniger als erwartet, vielleicht, aber gewiss kein Rückschritt.
Schnell war in diesem Sommer klar: Diese Transferperiode würde wichtig für das Talent, das auch schon in der deutschen U21-Nationalmannschaft spielt. Mehrere Bundesligisten, darunter DFB-Pokalsieger VfB Stuttgart und der SV Werder Bremen, wo Wanner auf seinen alten Förderer Horst Steffens getroffen wäre, zeigten Interesse. Aber auch ein Verbleib beim FC Bayern wurde von Tag zu Tag wahrscheinlicher: Erst der Müller-Abgang, auch Leroy Sane entschied sich ja gegen eine Vertragsverlängerung bei den Bayern und wechselte zu Galatasary Istanbul, dann verletzte sich während der Klub-WM auch noch Jamal Musiala, der Wanner wohl ähnlichste Spieler in der Bayern-Offensive, Kingsley Coman wechselte zum Ronaldo-Klub Al Nassr nach Saudi-Arabien und Serge Gnarby hat auch in diesem Sommer wieder einen schweren Stand in München. Auf diese Personalengpässe reagierten die Bayern bislang nur mit einem externen Neuzugang: Luis Diaz vom FC Liverpool, der aber am ehesten Sane, Coman und Gnabry ersetzen soll. Ansonsten wurden nur die Campus-Talente Lennart Karl, Winsdom Mike und Jonah Kusi-Asare in den Profikader integriert. Da wäre theoretisch also Platz für Paul Wanner. Und die Chance, sich beim Rekordmeister durchzusetzen, schien besser als jemals gedacht.
Das sah offenkundig auch der Sportvorstand des FC Bayern München, Max Eberl, so. Noch letzte Woche sagte er über das Talent: „Paul Wanner hat eine Riesen-Möglichkeit in den nächsten Wochen und hoffentlich Monaten. Jetzt hat er einen großen Schritt vor sich, bei Bayern München in diese Mannschaft einzusteigen.“ Eine Leihe, deutete Eberl da zwar an, könnte durchaus möglich sein, aber er traue ihm auch den direkten Durchbruch an der Säbener Straße zu und sagte angesprochen auf die vielen Bundesliga-internen Interessenten an einer Wanne-Leihe: „Das ist schön, weil es zeigt, dass seine Entwicklung genau dahin gehen soll, wo wir es gerne hätten“, sagt Eberl. „Dass er nämlich beim FC Bayern irgendwann seine Rolle spielt. Die Möglichkeit hat Paul jetzt, die soll er nutzen. Stand heute wüsste ich nicht, warum er nicht über den 1. September hinaus bei uns ist.“
Doch seit gestern ist klar: Paul Wanner geht einen anderen Weg. Er verlässt den FC Bayern. Nicht nur per Leihe, sondern dauerhaft und schließt sich in den Niederlanden den PSV Eindhoven an. Rund 15 Millionen zahlt PSV, die Bayern sichern sich zudem eine Rückkaufsoption, sollte Wanner in Eindhoven richtig krass durchstarten.
Wanner selbst soll auf den festen Wechsel gedrängt haben. Entsprechend patzig reagierte Max Eberl im Nachgang der Verkündigung: „Es kommt auf die Spieler an, die besser werden wollen. Die sich Herausforderungen stellen wollen.“ Gerade in Anbetracht der dünnen Personalsituation in der Bayern-Offensive: „Und wenn man dann nicht glaubt … Dann muss man irgendwie eine Entscheidung treffen. Wir wollen an Spieler glauben. Wir wollen mit Spielern arbeiten, die Bock darauf haben, Bayern-München-Spieler zu werden. Da gehören Schritte dazu, da gehört auch Mut dazu. Mit denen wollen wir uns beschäftigen.“
Ist Paul Wanner also nicht an einem Durchbruch interessiert, gar ambitions- oder sogar lustlos? Dagegen spricht, dass Paul Wanner nicht das einzige FC-Bayern-Talent ist, das die Münchener in diesem Sommer verlässt, obwohl Max Eberl öffentlich einräumt, den Spieler gerne gehalten gehabt zu haben. „Da ist Adam Aznou zu erwähnen“, räumt der Manager nämlich selber ein. Der marokkanische Linksverteidiger war vor drei Jahren vom FC Barcelona an den Bayern-Campus gewechselt, spielte in der Youth League, trainierte bei den Profis, debütierte unter Thomas Tuchel und verbrachte die vergangene Rückrunde bei La-Liga-Absteiger Valladolid. „Männerfußball“, wie Eberl es nennt. Auf die nächste Chance beim deutschen Rekordmeister wollte der 19-Jährige nun nicht mehr warten und wechselte daher für neun Millionen Euro zum FC Everton. „Wenn man die Chance nicht nutzen will, muss der Klub Entscheidungen treffen“, sagt Eberl. „Wir wollen auch keinen wirtschaftlichen Schaden haben. Wir sind traurig darüber, wir hätten es gerne gemacht. Er wollte nicht.“
Ist es also Zufall, dass allein in diesem Sommer zwei Top-Talente trotz Aussicht auf Spielzeit den FC Bayern fest und nicht nur per Leihe unbedingt verlassen wollten? Oder hat der FC Bayern ein Problem damit, Spielern verlässliche Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen?
Wie Wanner wechselte auch Malik Tillmann zum PSV Eindhoven, allerdings schon 2023, als die Situation im Bayern-Sturmzentrum ebenfalls so war, dass ein talentierter Back-up durchaus die Chance auf Einsatzzeiten gehabt hätte. Auch bei Tillmann sicherten sich die Bayern eine Rückkauf-Option, doch in diesem Sommer drängte der US-Nationalspieler stattdessen auf einen Wechsel zu Bayer-Leverkusen. Den Bayern entgeht damit die Chance darauf, eine wichtige Kaderposition, den Kane-Back-up, günstig und identitätsstiftend zu besetzen. Nächsten Sommer könnten Lennart Karl, Winsdom Mike und Jonah Kusi-Asare ähnliche Wege einschlagen, wenn sie sich nicht direkt als Stammspieler etablieren – zumindest Karl wird das aber, wie allerdings einst auch Wanner, zugetraut.
Die Geschichte zeigt darum zweierlei. Erstens: Die Talent-Dichte im Bayern-Campus ist nach einigen schwierigen Jahren wieder extrem hoch. Die Umstellungen dort haben sich definitiv gelohnt und zahlen sich jetzt aus. Zweitens: Der FC Bayern steht unter enormen Wettbewerbsdruck. Um nicht den Kontakt zu europäischen Top-Teams zu verlieren, muss er jedes Jahr Meister werden, eigentlich auch den DFB-Pokal gewinnen und ins Champions-League-Halbfinale kommen. Gleichzeitig ist das Umfeld rauer geworden, gerade für Trainer. Ein immer noch junger Cheftrainer wie Vincent Kompany geht darum vor allem auf Sicherheit und nicht auf Talententwicklung. Das aber ist ein Risiko für die langfristige Entwicklung, wie zum Beispiel der Fall Wanner zeigt.
Die Bayern müssen darum eine strategische Entscheidung treffen. Wenn sie Mia-san-Mia-Verein bleiben wollen, muss Erfolg an beidem gemessen werden: Titeln und Talententwicklung.