Das Bundeskartellamt hat sich im Sommer mit der Frage beschäftigt, ob die 50+1-Regel gegen deutsches oder europäisches Wettbewerbsrecht verstößt. Bislang galt: Sie tut es nicht, wenn sie rechtsverbindlich für alle Vereine gilt. Doch in der Bundesliga gibt es bislang zwei Ausnahmen: Den VfL Wolfsburg, dessen Alleingesellschafterin die Volkswagen AG ist, und Bayer Leverkusen, das ausschließlich von der Bayer AG kontrolliert wird. 2018 hatten sich Kartellamt und DFL darum auf einen Kompromiss geeinigt: Die 50+1-Regel gilt für alle, weitere Ausnahmen wird es in Zukunft nicht geben, aber für Wölfe und Werkself gilt eine Ausnahmeregelung. Doch auch an diesem Kompromiss gibt es seit einiger Zeit Zweifel, vor allem auch wegen europäischer Rechtssprechung. 2021 sollte der Kompromiss dann um einen Zusatz-Kompromiss ergänzt werden: Wolfsburg und Leverkusen sollten jeweils einen Vereinsvertreter in die Gesellschaterversammlung aufnehmen, der bei besonders bedeutsamen Fragen, zum Beispiel der Wappengestaltung, ein Veto-Recht hat. Außerdem sollten VW und Bayer keine zu hohen Verlustausgleiche zahlen dürfen – andernfalls hätte eine Art DFL-interne Luxussteuer gedroht. Umgesetzt wurde das allerdings nie.
An der Neubewertung des Bundeskartellamts hätte das wohl auch nichts geändert. Denn die geht weit über alle bislang getroffenen Kompromisse hinaus: „Nach der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erscheint es nicht mehr möglich, einen dauerhaften Bestandsschutz für Vereine vorzusehen, die bereits eine Förderausnahme erhalten haben“, erkärt Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts. Heißt: Es darf keine Ausnahmen mehr geben, der Bestandsschutz für Bayer Leverkusen und den VfL Wolfsburg muss gestrichen werden.
Doch die Wettbewerbsschützer*innen stören sich noch an einem dritten Profiverein. Mundt nämlich weiter: „Vielmehr müssen alle Klubs grundsätzlich homogene Wettbewerbsbedingungen vorfinden. Das bedeutet, dass bei allen Klubs zumindest perspektivisch sichergestellt werden muss, dass der für Neumitglieder offene Mutterverein die Profiabteilung beherrscht.“ Das zieht das Bundeskartellamt konkret bei RB Leipzig in Zweifel, denn dem RB Leipzig e. V. gehören nur 20 Personen an – alle stehe dem Red Bull-Konzern nahe, Fans sind nicht darunter. Doch auch die Satzung der TSG Hoffenheim umfasst einen nun problematischen Paragrafen: Dort können nämlich Mitglieder, die nach 2009 dem Verein beigetreten sind, aktuell kein Stimmrecht auf der Mitgliederversammlung erhalten – außer sie sind selbst aktive Profis des Vereins.
Zuletzt machte das Kartellamt klar, dass die 50+1-Regel, wenn es sie gibt, auch bei wirklich allen Klubs verbindlich durchgesetzt werden muss. Und damit sind wir bei Hannover-Investor Martin Kind. Denn Kind, damals auch noch Geschäftsführer der Kapitalgesellschaften von Hannover 96, war bei der Abstimmung über einen Investoreneinstieg bei der DFL vom Mutterverein angewiesen, gegen den Investoreneinstieg zu stimmen, stimmte aber wohl dafür. Das wäre ein 50+1-Verstoß, wie das Kartellamt ihn in Zukunft nicht mehr tolerieren würde.
Wie geht es jetzt weiter? Rechtsverbindlich ist die Bewertung des Bundeskartellamtes erst einmal nicht. Konsequenzen haben wird sie trotzdem. Die DFL hat bereits angekündigt, sie genau prüfen und notwendige Konsequenzen ableiten zu wollen. Wie genau die aussehen? Darüber werden die Meinungen auseinander gehen. Deswegen waren auch die Abstimmungen über die neue DFL-Führung heute mit großer Spannung erwartet worden.
In Berlin wurde dann jedoch ausgerechnet Ferando Carro von den Vertretern der 36 Vereine der Bundesliga und 2. Bundesliga einstimmig gewählt. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Besonders im Hinblick auf die Zukunft der 50+1-Regel wurde der Bewerbung des Geschäftsführers von Bayer Leverkusen große Bedeutung beigemessen.
Nachdem das Bundeskartellamt seine Einschätzung zur 50+1-Regel abgegeben hatte, hatten Leverkusen und Wolfsburg ausdrücklich erklärt, sich „rechtliche Schritte vorbehalten“ zu wollen. Durch seine Rolle in der europäischen Klub-Vereinigung ECA zählt Carro inzwischen zu den einflussreichsten Entscheidungsträgern im deutschen Fußball und baut seine Position nun auch innerhalb der DFL aus. Immer wieder hatte der Leverkusener Geschäftsführer Kritik an der 50+1-Regel geäußert.
Innerhalb der DFL hofft man nun, gemeinsam mit Carro einen Kompromiss zum Fortbestand der Regel erarbeiten zu können. Hans-Joachim Watzke, der auf der Generalversammlung als DFL-Präsidiumssprecher bestätigt wurde, betonte in seiner Rede die Bedeutung von 50+1: „Wir sollten alles dafür tun, das 50+1 erhalten bleibt“, so Watzke. „Das ist für mich das Elementare unseres Volkssports. Da sollten wir alle für kämpfen.“
Wie dieser Einsatz konkret aussehen soll, ließ Watzke offen. Klar ist jedoch zumindest eines: „Das Bundeskartellamt hat eine Untergrenze genannt: Die Mehrheit der Stimmrechte muss bei jedem Klub künftig bei einem mitgliederbestimmten Mutterverein liegen“, erklärte der Bonner Sportrechtler Alexander Scheuch in der Sportschau. Für Leverkusen und Wolfsburg würde dies bedeuten, mehr als 50 Prozent der Stimmrechte an ihre Stammvereine zurückzugeben. Kartellamts-Präsident Andreas Mundt machte gegenüber der Sportschau deutlich: „Es ist an den Klubs und der DFL, hier mit etwas zu kommen, was dem Wettbewerbsrecht entspricht.“ Carro gilt so oder so als entschiedener Gegner der Regel, droht sogar mit einer Klage gegen sie. Auch Bayern-Patron Karl-Heinz Rumenigge lehnt sie ab, will stattdessen, dass alle Klubs frei entscheiden können.
Doch diese Argumente ziehen nicht. In den letzten beiden Jahren stand keine Mannschaft aus England im Endspiel der Championsleague. In den letzten drei Jahren nur eine. Fünfmal in den letzten zehn Jahren gewann darüber hinaus Real Madrid die Champions League – ein eingetragener Verein, der im Besitz seiner stimmberechtigten Mitglieder ist.
Wesentlich für die im europäischen Vergleich ordentliche Vermarktbarkeit der deutschen TV-Rechte ist zudem die außerordentlich beeindruckende Stimmung in unseren Stadien. Auch ausländische Fans bestätigen das immer wieder. Doch, dass die Ultras sich ein Ende der 50+1-Regel gefallen lassen würden, ist unvorstellbar. Vielmehr würde der deutsche Fußball sein Alleinstellungsmerkmal und damit auch seine Vermarktbarkeit verlieren. Zumal sich Investoren wohl kaum um möglicherweise Investoren-affine Vereine wie Heidenheim oder Elversberg reißen würden, während es bei idealen Investorenzielen, „schlafenden Riesen“ wie Schalke 04, unter den Vereinsmitgliedern niemals eine Mehrheit für für die Selbstentmachtung und den Verkauf des eigenen Vereins, der für die Mitglieder oft integraler Bestandteil des eigenen Lebens ist, geben wird. Hoffnung macht dabei, dass die beiden weiteren Bundesliga-Aufsichtsratsplätze bei der DFL an Eric Huwer (HSV) und Ralf Huschen (Hertha BSC) gehen, zwei klare 50+1-Befürworter*innen. Oke Göttlich, Präsident des FC St. Pauli wurde zudem zweiter stellvertretender Sprecher des DFL-Präsidiums.
Übrigens: Anne Baumann (SV Darmstadt 98) bekam den separaten Zweitligaposten im Aufsichtsrat. Sie ist damit die erste Frau im Aufsichtsrat und die erste in der DFL-Führung seit dem Abgang von Donata Hopfen aus der DFL-Geschäftsführung.
Und auch das ist ein, nein, es ist sogar das beste Argument: Die Vereinskultur übernimmt eine wichtige gesellschaftliche Funktion hier in Deutschland. Menschen kommen zusammen – auch solche, die sonst vielleicht nicht in den Austausch kämen. Hier findet jede Menge Sozialarbeit statt, oft auch politische Bildung. Menschen bekommen die Möglichkeit, sich zu entfalten. Ultras bekennen oft auch politisch Farbe, ligaweit standen beispielsweise zahlreiche Kurven eindruchsvoll an der Seite der Frauen-Leben-Freiheit-Bewegung, oder leisten praktische Solidarität für Menschen in Not. Fallen die Vereine weg – und exakt das wäre die Konsequenz des Ende der 50+1-Regel – ginge damit auch über die Stadien hinaus unwiderbringlich viel verloren.
Darum ist die Neubewertung des Kartellamtes auch eine richtige Chance! Sie ebnet den Weg, die 50+1-Regel auszuweiten und lückenlos anzuwenden. Mag sein, dass das die Bundesliga verändern würde und Vereine wie Bayer 04 Leverkusen oder der VfL Wolfsburg nicht mehr Teil von ihr wären. Mag sein, dass Konstrukte wie RB Leipzig aufhören würden, in Deutschland zu existieren. Was soll’s; Jürgen Klopp findet schon einen neuen Job. Gleichzeitig würde die Integrität des sportlichen Wettbewerbs erhöht und die Existenz der Vereine als gesellschaftliche Orte gesichert. Auch die deutsche Fankultur, mit ihren spektakulären Choreografien, ihrer meist einfach nur genialen Stimmung und dem Flair, die nur sie einer Fußballübertragung verleihen kann, bliebe erhalten – auch weil Ticketpreise in keiner anderen Top-Liga so günstig sind im 50+1-Land.
Man kann der DFL und allen ihren Mitgliedern darum nur dringend davon abraten, sich auf eine Diskussion über ein Ende der 50+1-Regel einzulassen. Kompromisse mit Fernando Carro darf es nicht um jeden Preis geben. Denn es wäre Gift für den deutschen Fußball. Sportlich wie gesellschaftlich.