Nicht nur in Europa wird Fußball gespielt – klar. Dieser Sport ist überall auf der Welt zu Hause. Und auch das macht ihn so unfassbar spannend. FanLeben.de beginnt darum heute eine neue Reihe und stellt internationale Mannschaften, Strukturen und Wettbewerbe vor, die irgendwo auf der Welt im Rampenlicht stehen. Nachdem es gestern um den afrikanischen Champions League Sieger ging, geht es heute um eineungewöhnliche Rechtsform des chilenischen Fußball.

Wer sich für südamerikanischen Fußball begeistert, kommt an Colo-Colo nicht vorbei. Colo-Colo gilt als erfolgreichster Fußballverein Chiles und blickt auf eine beeindruckende Titelsammlung zurück. Der Klub gewann über 30 nationale Meisterschaften, zahlreiche Pokalwettbewerbe und schrieb 1991 Geschichte, als er als erster und bislang einziger chilenischer Verein die Copa Libertadores holte. Zu den bekanntesten Spielern zählen Carlos Caszely, Idol der 1970er und 80er Jahre, Francisco “Chamaco” Valdés, einer der besten Torschützen der Vereinsgeschichte, sowie Marcelo Barticciotto, Matchwinner beim Libertadores-Triumph 1991. Später prägten auch Arturo Vidal, Claudio Bravo, Alexis Sánchez und Humberto Suazo die jüngere Geschichte des Vereins.

Doch zu Beginn der 2000er steckten viele chilenische Topklubs tief in den roten Zahlen. Der sichtbarste Kollaps: Colo-Colo. Am 23. Januar 2002 erklärte das 22. Zivilgericht von Santiago den Club Social y Deportivo Colo-Colo für zahlungsunfähig; die Verbindlichkeiten wurden später auf rund 30 Mio. US-Dollar beziffert. Die Insolvenz markierte einen Wendepunkt – und zwar weit über den Rekordmeister hinaus. Der chilenische Fußball sollte sich nun für immer verändern. Denn als Reaktion verabschiedete das Parlament in Chile 2005 die Ley N° 20.019, die die „Sociedades Anónimas Deportivas Profesionales“ (SADP) schuf – eine spezielle Kapitalgesellschaftsform mit Sportzweck. 2006 folgte ein Reglamento, zu Deutsch: Durchführungsverordnung, das Details zur Gründung, Aktionärsoffenlegung und zur Anwendung des allgemeinen Aktienrechts festlegte. Das Ziel: Governance verbessern, Kapitalzufuhr erleichtern und die Profibereiche aus den verschuldeten Muttervereinen herauslösen. Was es bedeutete: Das Ende der Mitgliedervereine im chilenischen Fußball. Wenn auch gänzlich anders organisiert als beispielsweise in Europa. FanLeben.de erklärt es.

Beginnen wir mit der Geschichte: Rechtlich „zwang“ die Ley 20.019 Vereine nämlich nicht pauschal zur Umwandlung, sondern Schuf lediglich die rechtliche Möglichkeit dazu. Die Statuten des chilenischen Fußballverbandes ANFP allerdings schreiben seitdem vor, dass Mitgliedsklubs der Profiligen als SADP organisiert sein müssen – oder als gemeinnützige Organisationen, deren Profifußball an eine SADP konzessioniert ist. Der letzte Teil – und jetzt wird es richtig spannend – öffnet also eine Hintertür, welche die Vereine seither nutzen: Colo-Colo gründete beispielsweise schon im Juni 2005 die Blanco y Negro  SADP und schloss mit ihr einen 30-jährigen Konzessionsvertrag. Konkret funktioniert das so: Die SADP übernimmt dabei unter anderem den Profibereich, die Arbeitsverträge und die Bedienung wesentlicher Verbindlichkeiten, im Gegenzug erhält sie das wirtschaftliche Nutzungsrecht an Marke, Profiteam und Erlösströmen. Damit kontrolliert zwar statt zehntausender Fans nun die Blanco y Negro den Traditionsverein. Und die wird seither vor allem von institutionellen Anlegern kontrolliert. Der Verein hat jedoch einen sogenannten „golden Share“, der es ihm ermöglicht, einen Teil des Aufsichtsrates zu benennen und sich so zumindest einen gewissen Einfluss zu wahren und seine historische Expertise einzubringen.

Aber all das ist– und das ist außergewöhnlich – eben erst einmal nur vorübergehend, weil der Konzessionsvertrag zwischen dem Club Social y Deportivo Colo-Colo und der Betreibergesellschaft Blanco y Negro SADP ja im Jahr 2035 ausläuft. Wie es dann weitergeht? Juristisch gilt: Mit dem Ende der 30-jährigen Vereinbarung fällt das Nutzungsrecht an Marke, Profimannschaft und wirtschaftlichen Aktivitäten an den Mutterverein zurück. Theoretisch hätte der Mitgliederverein damit wieder die Kontrolle über den Profifußball. Ob dies in der Praxis auch möglich ist, ist aber fraglich. Denn das geltende Sportrecht und die Statuten des chilenischen Fußballverbands verlangen ja weiterhin, dass Klubs in den Profiligen über eine „Sociedad Anónima Deportiva Profesional“ organisiert sind. Für Colo-Colo bedeutet das: Eine Rückkehr in die direkte Verantwortung des Mitgliedervereins wäre nur denkbar, wenn er selbst eine solche Kapitalgesellschaft gründet oder die Profis erneut in Form einer zeitlich-befristeten Konzession vergibt. Da der Stammverein bis dahin ja entschuldet ist, könnte er damit regelmäßig, also alle paar Jahrzehnte, hohe Einnahmen generieren, die in die Jugendarbeit, soziales Engagement oder andere Sportarten fließen könnten.

Alle paar Jahrzehnte – das zeigt auch dieses Beispiel: Bei der Universidad de Chile billigte die Hochschule im Jahr 2007 die Übertragung von Namen und Markenrechten an die neu gegründete Betreiber-SADP Azul Azul, die fortan den Profibereich führte. Die Konzession wurde hier 2007 ebenfalls für 30 Jahre geschlossen, musste aber mittlerweile schon um weitere 15 Jahre, also bis 2052, aufgrund von Steuerschulden des Stammvereins verlängert werden. Sie wird ebenfalls vor allem von institutionellen Anlegern kontrolliert.

Und auch alle anderen Vereine unternahmen in dieser Zeit die Umwandlung in Kapitalgesellschaft. So auch Universidad Católica. Hier übernahm ab 2009/2010 die Gesellschaft Cruzados SADP den Profifußball. Der Fall ist insofern besondern, weil Cruzados direkt den Schritt an die Börse gehen und über Aktienplatzierungen neues Kapital einsammeln durfte. Man richtete sich also nicht nur an institutionelle Investoren, sondern auch an Kleinanleger. Die Aktien der SADP werden so seither an der Börse gehandelt und sind für jeden zugänglich. Allerdings: Auch die Cruzados SADP hält nur eine Konzession, diese ist bis 2069 befristet und kann dann entweder verlängert werden oder auslaufen. Für die Anleger*innen bedeutet das, wenn man so will, eine doppelte Wette: Einmal auf den sportlichen Erfolg und steigende Umsätze und dann darauf, dass die Konzession nicht ausläuft – weil dann würden ihre Anteile schließlich von heute auf morgen wertlos. Die meisten Vereine haben heute ein Misch-Modell aus institutionellen Anlegern, in Deutschland würde man sie wohl „strategische Partner“ nennen, und frei-verfügbaren Aktien. Auch ein „golden Share“, wie in Colo-Colo hat, haben sich die meisten Stammvereine und damit das Weiterführen ihrer Tradition auch im Profifußball gesichert.

Dass es so gekommen ist, war zwischen 2002 und 2005 übrigens keine Selbstverständlichkeit. Colo-Colo, der erste Verein, der die Umwandlung direkt vollzog, hatte sich nämlich lange nicht auf eine Konzessionslösung festgelegt. Auch eine Umwandlung des Vereins in die SADP, die niemals wieder hätte rückgängig gemacht werden können wurde diskutiert, fand unter den Mitgliedern aber keine Mehrheit. Vor allem deswegen setzte sich anschließend in ganz Chile das Konzessions-Modell durch. Und sicherte zumindest etwas Demokratie.

Denn damit kommen wir zum Fazit. Und das beginnt mit einem Immerhin: Immerhin konnten die Stammvereine auf diese Weise in Chile, anders als zum Beispiel in Spanien, wie das Beispiel Atletico Madrid zeigt, über das FanLeben.de hier berichtet hat, erhalten bleiben und sie haben auch weiter Einfluss – im Fall von Colo-Colo mit dem „golden Share“ sogar auf das Tagesgeschäft, in anderen Fällen dadurch, dass sie entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen Konzessionen verlängert oder neu vergeben werden. Die SADP-Gründung ist also ein Versuch, die Tatsache, dass Profifußball ein Geschäft ist, mit seinen historischen Wurzeln in den Vereinsdemokratien im Einklang zu bringen.

Das Risiko: Wenn private Geldgeber die SADPs kontrollieren, dann haben sie einen besonders hohen Dividenden-Druck, denn sie müssen ja davon ausgehen, dass ihre Konzession nicht verlängert wird. Heißt: Ihre Einlage muss sich im Zweifel über Dividenden statt über einen Weiterverkauf, der ja am Ende der Konzessionszeit unmöglich wird, refinanzieren. Über die langen Konzessionszeiten werden die Gesellschaften so zwar entschuldet, aber finanziell eben auch ausgepresst.

Entsprechend kontrovers wird das Thema unter den Fans in Chile bis heute diskutiert: Viele Anhänger*innen betrachten die Ley 20.019 und die daraus folgenden Konzessionsmodelle als einen Bruch mit der sozialen und kulturellen Tradition des Fußballs. Für sie verkörpert der Club nicht nur eine Profimannschaft, sondern eine Gemeinschaft, die durch die Mitglieder getragen werden sollte. Dass nun Gesellschaften wie Blanco y Negro, Azul Azul oder Cruzados über den Profibereich bestimmen, wird in Fankreisen oft als Entfremdung empfunden. Entsprechend kommt es immer wieder zu Protestaktionen, von Transparenten im Stadion über Demonstrationen vor den Vereinszentralen bis zu organisierten Boykottaufrufen. Auch bei Colo-Colo.

Gleichzeitig anerkennen viele Beobachter, dass die Umwandlung die Klubs aus einer tiefen wirtschaftlichen Krise herausgeführt hat. Ohne die Kapitalzufuhr der Investoren hätten Vereine wie Colo-Colo oder Universidad de Chile ihre Schuldenberge wohl kaum abbauen können. Der sportliche Erfolg nach der Restrukturierung – etwa Colo-Colos Meisterserie Mitte der 2000er – überdeckte zeitweise die Unzufriedenheit. Doch gerade in schwierigen Phasen flammt die Debatte immer wieder auf, zuletzt verstärkt durch Skandale um die Vereinsführung oder sportliche Rückschläge.

Und sieh haben Recht: Am Ende ersetzt jedenfalls nichts echte Demokratie und Mitbestimmung. Auch nicht auf Zeit.

Unser Newsletter: 1x die Woche exklusive Inhalte kostenlos in Dein Postfach holen:

Von admin