Bei einer folgenschweren Pyro-Aktion im November 2022 vor dem Spiel des Karlsruher SC in der zweiten gegen den FC St. Pauli, damals auch noch in der zweiten Liga, sind auf der voll besetzten Tribüne des Wildparkstadions mindestens elf Menschen teilweise schwer verletzt worden. Mit der Pyro-Aktion wollte eine Karlsruher Ultra-Gruppe ihren 20. Geburtstag feiern. Die Konsequenzen schockierten alle, auch wenn klar ist, dass Pyrotechnik in vollbesetzen Blöcken und verteilt über die gesamte Tribüne eben nicht ungefährlich ist, sondern sogar verdammt gefährlich sein kann.

Deswegen nahm sich auch die Staatsanwaltschaft der Sache an. Ihr Ziel: Diejenigen zu ermitteln, die die Pyro-Aktion planten und umsetzten. Dabei wollte die Staatsanwaltschaft auch drei Sozialarbeiter*innen, die beim KSC als Fanbeauftragte beschäftigt sind, als Zeug*innen vernehmen. Doch die weigerten sich auszusagen. Es sei ihnen dabei aber ausdrücklich nicht darum gegangen, mögliche Täter*innen zu schützen, sondern darum, ihre Arbeit mit den Fans, die auf Vertrauen basiere, fortsetzen zu können, argumentiert Sophia Gerschel, eine der Fanbeauftragten. Und das werde nun mal zerstört, wenn sie potenziell sensible Inhalte aus vertraulichen Gesprächen publik mache. Die Staatsanwaltschaft sah das anders und eröffnete auch gegen Gerschel und ihre Kollegen ein Ermittlungsverfahren – Der Vorwurf: Strafvereitelung. „Grundsätzlich ist für uns klar, dass wir nicht verurteilt werden dafür, dass wir unsere Arbeit machen“, sagt Sozialarbeiterin Gerschel.

Doch was machen die Fanbeauftragte eigentlich? Ihr Job besteht vor allem darin, Fußballfans zu begleiten, die außerhalb des Stadions vielleicht nicht immer ganz so gut zurechtkommen. Schwerere Fälle inbegriffen. Gerschel berät, hört zu, zeigt Perspektiven auf. „Wir sind diejenigen, mit denen noch gesprochen wird. Fußballfans sprechen in den wenigsten Fällen mit der Polizei. Als Fanprojekt haben wir den Zugang, können übersetzen, vermitteln“, erklärt die Sozialarbeiterin. Ihre Haltung in der Pyro-Affäre begreift sie deswegen auch als politisches Engagement, als Einsatz um ein Zeugnisverweigerungsrecht: „Es muss politisch deutlich gemacht werden, welche Bedeutung soziale Arbeit hat. Und dann muss diese auch geschützt werden.“ Sie fordert: „Der rechtliche Rahmen muss sich ändern.“

Es folgte eine breite gesellschaftliche Debatte über die Frage, ob es ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit braucht. Denn das Sozialarbeiter*innen im Zweifel vor Gericht aussagen müssen, betrifft ja nicht nur Fanbeauftragte im Fußball. Sondern auch Streetworker*innen, die Menschen aus der Sucht holen sollen. Sozialarbeiter*innen in der Kinder- und Jugendhilfe, der Schuldner- oder Integrationsberatung, an die sich Menschen in Notlagen wenden, um Hilfe dabei zu bekommen, ihre oft existenziellen Probleme zu lösen. Diese Räume müssen doch geschützt sein – sollte man meinen.

Deutschlandweit forderten Fankurven nämlich ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter*innen. Ihr Druck trug das Thema sogar bis in den Bundestag, wo die Linksfraktion Ende 2023 eine Anfrage an die damals noch von Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner geführte Bundesregierung stellte. Die Frage: Plant die Bundesregierung das entsprechende Gesetz so zu ändern, dass auch in der Sozialen Arbeit ein Zeugnisverweigerungsrecht gilt? Die Antwort: „Zur Erhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege [muss] der Kreis der Zeugnisverweigerungsberechtigten auf das unbedingt erforderliche Maß begrenzt werden“. Darauf, so die Bundesregierung, habe auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder hingewiesen, in dem es „wiederholt das verfassungsrechtliche Gebot einer effektiven Strafverfolgung hervorgehoben und das Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont“ habe. Das ist Jurist*innen-Deutsch für: Hartes Nein. Eine Haltung, die übrigens ausdrücklich von der Union, also CDU und CSU, geteilt wird.

Sophia Gerschel und ihre Kollegen fanden sich deswegen auch bereits 2022 vor Gericht wieder. Sie wurden in erster Instanz jeweils zu Geldstrafen in Höhe von 90 Tagessätzen verurteilt, das ist für alle drei jeweils ein mittlerer fünfstelliger Betrag, bedeutet aber auch, dass sie immerhin nicht vorbestraft wären. Akzeptieren wollten die drei das Urteil aber trotzdem nicht: „Das werden wir nicht akzeptieren.“ Die Berufungsverhandlung steht noch aus.

Das Verfahren gegen Gerschel und ihre Kollegen wurde dabei natürlich auch viel beachtet. Die Staatsanwaltschaft begründete die Notwendigkeit einer Verurteilung damit, dass man immerhin sechs Verfahren gegen Ultras habe einstellen müssen, weil ihnen eine Schuld ohne die Aussagen der Sozialarbeiter*innen nicht eindeutig habe nachweisen können. „Dabei reden wir nicht von einer Lappalie“, argumentierte auch die Richterin. Zudem hätten die Sozialarbeiter*innen selbst in mehreren Presseveröffentlichungen durchblicken lassen, wie bewusst es ihnen war, dass sie sich nicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen dürfen. Gleichzeitig hatte die Verteidigung mehrfach nach Belegen gefragt, welche Ermittlungen genau ihre Mandanten „vereitelt“ haben sollten. „Sie hatten doch schon alle Namen“, argumentierte Anwalt Alexander Schork. „Und die Haupttäter kennt niemand, die waren alle vermummt.“ Die Verteidigung hatte im Prozessverlauf außerdem beantragt, die Richterin Charlotte Scholtes als Zeugin vorzuladen. Hintergrund ist, dass sie auch in den Verfahren gegen zwei beteiligte Ultras, die sie jeweils zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilte, Vorsitzende Richterin gewesen war. Dadurch hätte sie jedoch den Vorsitz im laufenden Verfahren abgeben müssen – ein Befangenheitsantrag light also. Scholtes lehnte ab, die Verhandlung ging unter ihrem Vorsitz weiter, was von Rechtsexperten wie dem Freiburger Soziolgieprofessor Albert Scherr, der ein Gutachten über das Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit verfasst hat, deutlich kritisiert wurde.

Aber wie ist das mit der Argumentation der Bundesregierung, um für die Zukunft aus dem Fall lernen zu können: Ist die schlüssig? Fan-Experte Michael Gabriel glaubt das nicht. Er ist mit der aktuellen Rechtslage unzufrieden: „Durch das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht herrscht eine Unsicherheit. Es gibt vereinzelt Fälle, wo Leute ihre Arbeit deshalb verlassen haben“, berichtet der Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS). „Einige Standorte berichten, dass die Verunsicherung durch das Karlsruher Urteil auch bei Vorstellungsgesprächen Thema ist.“ Kolleginnen und Kollegen würden sich „von Situationen fernhalten, die konfliktbehaftet sind“. Denn der Karlsruher Fall zeigt, dass sonst Strafen drohen könnten.

Auch Daniel Melchien, der als Vorsitzender des Stadtjugendausschusses in Karlsruhe der Dienstvorgesetzte von Gerschel und ihren Kollegen ist, sieht ein ähnliches Problem: „Wir bewegen uns in einem Feld, auf dem wir einen krassen Personalmangel haben. Und da wird es kein Träger schaffen, Personal zu finden, wenn der rechtliche Rahmen nicht klar ist; wenn ich befürchten muss, dass ich unverschuldet in so eine Situation komme.“ Auch Sophia Gerschel hat ihre Tätigkeit inzwischen beendet.

Auch vom Karlsruher SC gab es Kritik. In einem Statement des Klubs heißt es: „Wir bedauern sehr, dass die drei zu Geldstrafen von 90 Tagessätzen verurteilt worden sind.“ Und weiter: „Aus unserer Sicht haben die Sozialarbeiter ihren Beruf der Sozialarbeit so ausgeübt, wie es aus ihrer Perspektive der einzig richtige Weg ist. Sozialarbeit kann nur auf Basis eines Vertrauensverhältnisses aller Beteiligten erfolgreich praktiziert werden. Der hohe Wert, den Sozialarbeit besitzt, muss deshalb durch unseren Rechtsstaat durch entsprechende Gesetze geschützt werden. Deshalb ist das Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialarbeit analog zu Berufsgruppen wie bei Juristen, Pfarrern oder Journalisten auch in der Sozialarbeit unabdingbar.“

Wichtig ist: Es geht in der Debatte, die übrigens keineswegs neu ist, nicht um den konkreten Vorfall. Die Pyro-Aktion ist nicht zu verteidigen. Es geht darum, dass Sozialarbeit als gesellschaftliches Instrument gebraucht wird, um Menschen in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen. Und zwar da, wo sie sind. Also zum Beispiel auch beim Fußball, denn das dort viele unterschiedliche Menschen zusammen kommen, ist ja auch für Sozialarbeiter*innen eine echte Chance. Aber damit Soziale Arbeit als präventive statt restriktive Form der – naja – Problemvermeidung funktionieren kann, müssen eben die Rahmenbedingungen stimmen. Arbeit die von Vertrauen lebt, kann ohne Zeugnisverweigerungsrecht schlichtweg nicht richtig funktionieren. Gute Sozialarbeit hingegen kann zukünftige Straftaten verhindern – natürlich nicht nur im Fußball. Das Argument der Bundesregierung, das Straftaten bestmöglich aufzuklären sein müssen, vernachlässigt aber diesen Aspekt.

Deswegen ist die Debatte ja auch nicht neu. Im Gegenteil: Das Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter wird seit den 70er-Jahren von der Politik diskutiert. Die entsprechende Gesetzeslage hat sich jedoch in den vergangenen 50 Jahren nicht geändert. Obwohl Sozialarbeiter*innen und ihre Dienstherren, selbst bei der Stadt, das deutlich kritisieren. Die Leidtragenden: Menschen in Ausnahmesituationen.

Aber ja übrigens auch die Steuerzahler*innen, die Ermittlungsbehörden und teilweise auch Gerichtskosten finanzieren. Das jedoch nur am Rande.

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Von admin