anchmal schreibt der Fußball rund um einzelne Spiele ganz besondere Geschichten – absurd oder bewegend. Auf FanLeben.de rekonstruieren wir diese Geschichten und halten so die Erinnerung am Leben. Nachdem wir bislang über das Spiel Barbados und Grenada 1994, bei dem beide Mannschaft unbedingt ein Eigentor erzielen wollten, die Rückkehr von Erzgebirge Aue auf die internationale Bühne, über die tragische Geschichte der torreichste Begegnung aller Zeiten, über einen Schiedsrichter und seine Zahnprothese, über die WM 1954 berichtet haben und ein kurioses Qualifikationsspiel zwischen Madagaskar und Mauritius, geht es heute um ein Spie mit mehr als einem Ball. Los gehts!

Holker Street, Barrow-in-Furness, ein grauer Nachmittag Anfang 1962. Der Wind vom Irischen Meer trägt salzige Kälte über die offene Tribüne, Wolken hängen tief über dem Stadion, das mehr nach Arbeiterschicht als nach Profifußball riecht. Es ist einer dieser Orte, an denen der englische Fußball der unteren Ligen nie verklärt war – er wurde einfach gespielt, egal bei welchem Wetter, egal vor wie vielen Zuschauern.

Barrow AFC empfing an diesem Samstag die Doncaster Rovers. Ein normales Ligaspiel, Fourth Division, nichts Besonderes. Und doch sollte es zu einer jener Partien werden, die man Jahrzehnte später aus den Archiven kramt, weil der Fußball sich manchmal selbst überlistet.

Es geschah in der zweiten Halbzeit. Barrow lief einem 1:1 hinterher, die Partie wogte hin und her, als plötzlich etwas passierte, das heute eigentlich bei moderner Kameratechnik und allem weiteren Firlefanz schnell geklärt wäre: Ein zweiter Ball flog von der Tribüne aufs Spielfeld. Kein Wurfgeschoss, kein Protest – vermutlich ein Kind, das ihn halt in der Hand hatte und unbedacht losließ.

Die Szene entwickelte sich in Sekunden. Ein Teil der Barrow-Abwehr wandte sich irritiert dem falschen Ball zu, instinktiv, vielleicht auch aus purer Überraschung. Gleichzeitig rollte der echte Spielball in Richtung des Doncaster-Angreifers, der zunächst so ungläubig schaute, als wäre die Situation ein schlechter Scherz. Dann setzte er nach, dribbelte durch eine Defensivlinie, die eher mit dem Sortieren der Realität beschäftigt war als mit dem Sortieren ihrer Aufgaben.

Er schob den Ball ins Tor. Und der Schiedsrichter gab den Treffer.

Die Empörung auf dem Platz kam zu spät. Barrows Spieler zeigten auf den zweiten Ball, sprachen von Verwirrung, verlangten eine Unterbrechung. Doch der Schiedsrichter blieb stur. Was er freigegeben hatte, war der offizielle Ball. Was von außen aufs Feld gelangt war, war nur eine Störung, ein Gegenstand wie viele andere, die gelegentlich auf Spielfeldern landen.

Doncaster gewann am Ende mit 2:1. Der Treffer aus der Doppelball-Szene entschied das Spiel. Die lokale Presse schrieb tags darauf von einer „seltsamen Episode“, der Verband bestätigte die Wertung ohne großes Aufheben. Die Szene verschwand mit den Jahren in Fußnoten und Schiedsrichterhandbüchern.

Aber wie würde dieselbe Szene heute bewertet werden?

Der Blick in das aktuelle Regelwerk ist eindeutig: Zum einen gilt, dass nach Regel 5 („Der Schiedsrichter“) das Spiel unterbrochen werden muss, wenn ein zusätzlicher Ball das Spiel beeinflusst. Und nach Regel 9 („Ball in und aus dem Spiel“) gilt, dass ein zweiter Ball eine „außenstehende Einflussnahme“ ist. Das heißt: Sobald er Einfluss auf das Spiel nimmt, MUSS der Schiedsrichter unterbrechen und das Spiel mit einem Schiedsrichterball fortsetzen.

In der Szene von Barrow geschah genau das: Die Verteidiger Barrows liefen zum falschen Ball, reagierten also eindeutig auf den äußeren Einfluss. Damit wäre der Treffer heute ungültig. Das Spiel würde mit einem Schiedsrichterball an der Stelle fortgesetzt, an der der Ball war, als der Schiedsrichter unterbrochen hätte.

Die Entscheidung des Schiedsrichters von 1962 wäre also nach heutigem Regelwerk unumstritten falsch – aber damals hatte man keine so präzise Formulierung. Man verließ sich auf Pragmatismus, Intuition und die Idee, dass man weiterspielt, solange irgendwie ein Ball rollt. Auch das muss man in Erinnerung behalten, wenn man die besonder detailreiche und bisweilen absurd-strenge Regelauswertung zum Beispiel der Bundesliga kommentiert.

Holker Street liegt heute stiller da. Der Wind weht immer noch über die offenen Tribünen, die Metallgeländer sind alt geworden, und einige Fans erinnern sich vielleicht noch an jene Begegnung, die im Archiv der englischen Schiedsrichter als kurioses Lehrstück weiterlebt.

Es ist eine Erinnerung daran, dass der Fußball, selbst in seinen kleinen Momenten, manchmal größer ist als die Regeln, die ihn erklären wollen.

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Von admin