Der Fußball in England ist protzig, kommerziell und wird von Investoren bestimmt. Zumindest in den allermeisten Fällen und wie es dazu gekommen ist, hat FanLeben.de hier auch bereits dokumentiert. Warum also begeistert englischer Fußball immer noch so sehr? Warum begeistert er vor allem auch die Menschen in England immer noch?

FanLeben.de hat drei Anekdoten recherchiert die zeigen: Auch auf der Insel ist der Fußball eben doch auch noch menschlich – zumindest oft. Es sind drei Geschichten, die zeigen, warum wir den Fußball trotz allem lieben. Auf geht´s!

Als ein Spieler noch schnell das Flutlicht reparieren sollte

Beginnen wir im bitterkalten Amateurfußball. Es geschah hier an einem dieser Abende, an denen der englische Non-League-Fußball seine ganze Eigenart entfaltet: kalte Luft, ein schmales Stadion, nasse Wiesen am Rand der Ortschaft, und Männer, die halbtags arbeiten und abends Fußball spielen, als hinge die Welt daran. Marske-by-the-Sea, ein Küstenort im Nordosten Englands, steht nicht häufig im Licht der Öffentlichkeit. An diesem Novemberabend 2021 tat er es – ausgerechnet, weil das Licht ausging.

Marske United spielte gegen Consett AFC. Es lief die zweite Halbzeit, als einer der Flutlichtmasten plötzlich ausfiel. Erst ein Flackern, dann ein leises elektrisches Knacken, dann Dunkelheit: Ein ganzer Abschnitt des Platzes wurde zur grauen Fläche. Ein Schiedsrichter kann da wenig machen. Ohne ausreichende Beleuchtung kann man nicht weiterspielen. Er pfiff also ab und die Spieler sammelten sich am Spielfeld and. Die Szenerie wirkte aussichtslos, als plötzlich ein Spieler sich vom Haufen löste: Phil Turnbull.

Turnbull ist Mittelfeldspieler, 34 Jahre alt, drahtig, erfahren, ein Routinier in den unteren englischen Ligen. Doch was ihn an diesem Abend besonders machte, war nicht seine Position, sondern sein eigentlicher Beruf. Turnbull ist Elektriker. Dieser Mann stand nun, noch mit erhobenem Puls vom Spiel, am Fuß des defekten Flutlichtmasts und beugte sich zu einer kleinen Metalltür. Die Szene hatte etwas Unwirkliches. Dort, wo sonst Techniker*innen arbeiten, aber bitte nicht während einer laufenden Begegnung, kniete nun ein Spieler im blauen Consett-Trikot, das Licht seines Smartphones auf die Schalter gerichtet.

Ein einmaliges Bild. Mit völlig berechtigter erster Konsequenz: Die Zuschauer*innen jubelten. Doch das Flutlicht blieb erstmal dunkel. Denn die Technik war dann doch komplexer, als Turnbulls improvisierte Analyse erlaubte. Der Spieler erhob sich, klopfte sich die Knie ab und deutete den Vereinsmitarbeiter*innen immerhin noch an, wo sie weitersuchen könnten. Die hatten dann aber auch Erfolg und brauchten das Licht wieder zum Laufen. Das Spiel wurde fortgesetzt und Turnbull kehrte auf den Platz zurück, als wäre nichts geschehen.

Vom Edelfan zum Torwart: Mit 54 zurück auf den Platz

Weiter geht es etwas höherklassiger – und mit jeder Menge Nostalgie: An einem Donnerstag im September 2025 merkt nämlich ein kleiner Verein im Süden Englands, wie dünn der Abstand ist zwischen organisiertem Profifußball und improvisiertem Chaos. Die Dorking Wanderers, sechste Liga, National League South, stehen plötzlich ohne Torwart da.

Harrison Foulkes, der Stammkeeper, hat sich schwer verletzt. Der neu verpflichtete Ersatztorhüter ist frühestens am Montag spielberechtigt. Das nächste Ligaspiel aber steigt schon am Samstag, zu Hause in Meadowbank, gegen AFC Totton. Flutlicht, Punktspiel, ganz normaler Kalender – nur jetzt halt ohne jemanden, der sich ins Tor stellen kann.

In größeren Vereinen würde man jetzt in den U-Teams nach Ersatz suchen. In Dorking, einer Kleinstadt in Surrey mit einer Fußballmannschaft, die sich aus dem Nichts in die höheren Regionen des Non-League geschoben hat, sieht die Lösung erzwungener Maßen anders aus: Man schaut nicht nach oben, sondern nach innen. Am 4. September veröffentlicht der Klub auf seiner Website eine Meldung, die im ersten Moment für die Fans des Klubs wie ein Scherz klingt: „Dunn Deal – Terry joins the Wanderers“. Denn Terry Dunn, 54 Jahre alt, ist zwar langjähriger Fan des Vereins und mehrfacher Aufsteiger im lokalen Amateurfußball, aber seit 1997 eigentlich auch im sportlichen Ruhestand. Jetzt unterschreibt er trotzdem einen Kurzzeitvertrag als Torwart.

Die Vereinsmeldung liest sich dabei tatsächlich wie eine Mischung aus Notfallplan und Liebeserklärung. Man habe „kein Ersatzkeeper in der Kürze der Zeit bekommen“ und freue sich deshalb, einen „staunch supporter“, zu Deutsch: einen unbeirrbaren Anhänger, im Kader begrüßen zu dürfen.

Dunn selbst kommt zu Wort. Sein Zitat ist schlichtweg unglaublich:

„Playing in goal is like riding a bike – you never forget it. I still regularly play walking football. As a Wanderers fan, no one will be trying harder than me to keep a clean sheet on Saturday.“

Im Deutschen: Im Tor zu stehen ist wie Fahrradfahren – man verlernt es nicht.

Die Geschichte verbreitet sich entsprechend in Windeseile. ESPN, Guardian, Reuters und sogar das legendäre FourFourTwo – alle berichten darüber, wie ein Klub aus der Peripherie seinen 54-jährigen Fan reaktiviert, weil sonst, naja, halt keiner da ist. Am Ende endet das Märchen dann doch noch kurz vor Anpfiff: Denn am Spieltag selbst verkündet Dorking Wanderers eine weitere Nachricht: Man habe den jungen Torhüter Joe Wright per Notleihe von Barnet verpflichtet – ein ausgebildeter Profi, rechtzeitig registriert.

Vom Fan zum Schiedsrichter – und das mitten im FA-Cup

Zum Abschluss schauen wir auf den Prestige-Wettbewerb des englischen Fußballs: Den FA-Cup. Und es geht auch noch um zwei Mannschaften, die zum Zeitpunkt der folgenden Geschichte in der Premier League, also der höchsten englischen Spielklasse, aktiv waren. Aber der Reihe nach. Wir befinden uns in Wolverhampton, im Molineux Stadium, wie gesagt zum FA-Cup, zur Drittrundenwiederholung des Duells zwischen den Wolves und dem Brentford Football Club. Es ist ein kalter Januarabend, der 16. Januar 2024 um genau zu sein, die Flutlichtmasten zeichnen harte Kegel in den dunklen Himmel über den West Midlands.

Das Spiel geht in die Verlängerung, als plötzlich einer der Schiedsrichter-Assistenten ausfällt: Ein Muskelproblem, vielleicht Kreislauf, die Kamera zeigt nur einen Mann, der nicht mehr weiterlaufen kann. Und während sich Spieler und Trainer beratschlagen, wird klar: Es gibt keinen neutralen Ersatz, keinen Reserve-Schiedsrichter, der spontan die Linie übernehmen könnte. Aber ein FA-Cup-Spiel darf nicht ohne vollständiges Schiedsrichter-Gespann fortgesetzt werden. Ein Spielabbruch droht.

Doch dann geschieht etwas, das später durch alle Nachrichtenagenturen gehen wird. Aus Block 12, irgendwo zwischen Imbissbuden-Duft und kaltem Beton, meldet sich ein Mann: Ross Bennett, 31 Jahre alt, Verwaltungsangestellter, Vater eines Elfjährigen. Und nebenbei: ausgebildeter Schiedsrichter im Nachwuchsbereich. Ein Mann, der normalerweise in Parks pfeift – oder mittendrin ist in der Kurve, als Fan der Wolverhampton Wanderers. Jetzt hebt er die Hand, als gefragt wird, ob sich noch ehrenamtliche Schiedsrichter im Stadion befinden. Also holen die Ordner ihn heraus, führen zur Seitenlinie. Bennett wirkt in den TV-Bildern ruhig, gefasst. Und doch ist da eine leichte Spannung in den Schultern – es ist ja auch kein ganz alltäglicher Seiten- oder Rollenwechsel, den er da vollzieht. Ein paar Meter weiter warten derweil schon die Wechseltafel, die Funkverbindung, die Coachingzone, die administrative Welt des Profifußballs. Die Offiziellen erklären ihm noch einmal die ohnehin Abläufe: Wechsel signalisieren, Rücksprache halten, neutrale Haltung bewahren. Bennett nickt, hört zu, wie ein Schüler, der den Ernst des Unterrichts rasch begriffen hat. Wenig später steht er dort, wo sonst Funktionäre stehen, die seit Jahren durch die Stadien ziehen. Ein Vater, ein Fan, ein Freizeit-Schiedsrichter. Jetzt: vierter Offizieller im FA Cup.

Auf dem Rasen kämpfen beide Mannschaften weiter. Das Spiel ist intensiv, emotional, das Molineux tobt – und Bennett, der sein Leben lang diesen Verein angefeuert hat, muss das alles aus einer neuen Perspektive betrachten: zurückhaltend, professionell, unparteiisch. Er steht an der Seitenlinie, während seine Mannschaft angreift, Chancen erspielt, verzweifelt ins Pressing geht. Er darf nicht reagieren. Nicht jubeln. Nicht verzerren. Der Fußball verlangt Neutralität, und Bennett hält sie ein. In der 110. Minute dringt Wolves durch den Strafraum. Ein Foul, ein Pfiff, ein Elfmeter. Das Stadion fängt an zu beben, und Bennett steht daneben wie ein Statist in seinem eigenen Lieblingsfilm. Pablo Sarabia trifft zum 3:2. Zehntausende schreien. Bennett bleibt stehen. Die Transformation zum Unparteiischen ist gelungen – aus Respekt zu diesem Spiel. Eine Wahnsinnsleistung, wirklich.

Als das Spiel endet, hat er seinen Job unauffällig erledigt. Und das ist ja vielleicht eh das größte Kompliment, das man einem Schiedsrichter machen kann. In diesem Fall aber ganz sicher Später wird er erzählt haben, dass es der schwierigste Teil gewesen sei, nicht zu feiern, als seine Mannschaft traf. Aber auf dem Platz merkt man davon nichts.

Keine Frage: Ross Bennett hätte sich eine Profi-Karriere verdient. Oder zumindest den größten Respekt – wie alle Eltern, große Geschwister und sonstigen Ehrenamtlichen im Nachwuchsbereich. Aber auch die Elektriker*innen und Schreiner*innen, die in ihren Vereinen auch neben dem Platz mitanpacken, die ausgebildeten Sanitäter*innen, die für Sicherheit sorgen, die Kaufleute, die die Abrechnung machen und die Ehemaligen, die sich doch noch einmal in die Pflicht nehmen lassen, wenn ihr Herzensverein ruft, sind Held*innen des Spiels.

Und der Grund, warum wir trotz allem den Fußball lieben.

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Von admin