Wird der langjährige Profi-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke neuer BVB-Präsident oder bleibt Reinhold Lunow bei Borussia Dortmund im Amt? Diese Frage werden die Mitglieder im Rahmen der Mitgliederversammlung im Herbst diesen Jahres beantworten. Und wenn man dem Boulevardjournalismus glauben darf, steht der BVB damit am Scheideweg: Auf der einen Seite der konservative Watzke, mit dem der BVB weiter wachsen würde, auf der anderen Seite der gegebenenfalls Linksradikale Lunow, der mit allem brechen will, was den Profi-Fußball ausmacht.
Lunow, so berichtet die BILD nämlich, breche mit seiner erneuten Kandidatur ein jahrealtes Versprechen an Hans-Joachim Watzke und Ehrenpräsident Reinhard Rauball, Platz zu machen, wenn Watzke von der hauptamtlichen Geschäftsführung der Kapitalgesellschaft ins ehrenamtliche Vereinspräsidium wechseln will. Außerdem gefährde Lunow, der dem Rheinmetall-Deal, den Watzke miteingefädelt hatte, kritisch gegenüber steht, weitere Sponsorings, auch weil er Watzkes Co-Geschäftsführer für den Bereich Marketing und Vertrieb, Carsten Cramer, ablösen würde. Dass es Lunow war, der Cramers Vertrag zuletzt verlängerte und den Watzke immer noch als einen persönlichen Freund ansieht, wird bei der BILD-Berichtserstattung dabei bewusst ausgeklammert.
Fakt ist: Ohne Hans-Joachim Watzke würde es den BVB in seiner heutigen Form wohl nicht mehr geben. Gemeinsam mit Reinhard Rauball hat Watzke den Klub nach der Beinahe-Pleite 2005 erst gerettet, dann stabilisiert und schließlich zurück an die Spitze des deutschen Fußballs zurückgeführt. Und auch wenn Watzke politisch der demokratischen Rechten nahe steht, er ist seit Jugendtagen mit Friedrich Merz persönlich befreundet und wie der Kanzler auch in der CDU aktiv, so hat der BVB-Boss innerhalb der DFL zum Beispiel die 50+1-Regel verteidigt – auch gegen mächtige Widersache wie zum Beispiel Karl-Heinz Rumenigge, der sie als Bayern-Geschäftsführer lieber gestern als morgen abgeschafft hätte. Gleichzeitig positionierte er den Ballspielverein deutlich gegen Antisemitismus: Als einziger deutscher Fußballverein spendete der BVB an die Shoah-Gedenkstätte in Yad Yashem.
Reinhold Lunow hat diesen Weg über all die Jahre eng begleitet. Erst als Schatzmeister im BVB-Vereinsvorstand, wo er übrigens auf Watzke folgte, dann als Vizepräsident und aktuell, nach dem altersbedingten Rückzug von Reinhard Rauball, eben an der Spitze des eingetragenen Vereins. Daneben arbeitet Lunow als Arzt. Und das überaus erfolgreich: In seiner Praxis, die er gemeinsam mit Sohn und Schwiegertochter betreibt, arbeiten 20 angestellte Ärzt*innen und weitere Mitarbeitende. Das allerdings passt wiederum zum BILD-Narrativ des radikalen Antikapitalisten.
Watzke und Lunow – beide sind Borussen durch und durch. Trotzdem dürfte Lunow etwas mehr Fußballtraditionalist sein als Watzke. Den Rheinmetall-Deal lehnte der amtierende BVB-Präsident zum Beispiel ab, weil er Werbung für Waffen falsch findet. Watzke hingegen sieht darin eine Anerkennung der aktuellen Weltlage.
Die Debatte über die Wahl des Vereinspräsidenten wird – zumindest in den Boulevardmedien – also völlig überhitzt geführt. Beim BVB rebellieren nicht die Ultras gegen das Establishment. Viel mehr geht es um die Frage, wie im Jahr 2025 der Spagat zwischen Werten und Wirtschaftlichkeit richtig ausgestaltet werden kann. Die Spannung liegt in Nuance. Was die Wahl aber nicht weniger spannend macht.
Eine andere Debatte rund um die Mitgliederversammlung jedoch droht aktuell etwas unterzugehen – dabei ist sie für die Zukunft der Vereinsdemokratie noch entscheidender: Was macht es mit einer Vereinsdemokratie, wenn von über 200.000-Mitgliedern nur einige Tausend an den Abstimmungen auf der Mitgliederversammlung vor Ort teilnehmen? Diese Debatte muss unabhängig von der Watzke oder Lunow geführt werden – also, gehen wir sie durch.
Zur Einordnung: Aktuell können nur die vor Ort bei den Mitgliederversammlungen anwesende Mitglieder an diesen teilnehmen und abstimmen. Also nur eine krasse Minderheit der Wahlberechtigten. Mag sein, dass viele Mitglieder das gar nicht stört, weil sie nur deswegen Mitglied sind, um überhaupt noch an Tickets für das Westfalenstadion kommen zu können, andere aber leben auf der ganzen Welt verteilt, für viele von ihnen stellt eine Anreise zur Mitgliederversammlung darum eine kaum leistbare Herausforderung da. Beim BVB wird darum über hybride Mitgliederversammlungen diskutiert.
Diese Idee ist dabei weder gesamtgesellschaftlich neu, noch wurde sie im Umfeld von Borussia Dortmund noch nie diskutiert. Schon 2020, als aufgrund der Corona-Pandemie die Mitgliederversammlung als Präsenzveranstaltung abgesagt werden musste, gab der Vorstand zu Protokoll, dass eine digitale Veranstaltung für seinerzeit 160.000 Mitglieder technisch nicht umsetzbar sei. Grundsätzlich aber kann ein Verein durch seine Satzung festlegen, in welchem Format er seine Mitgliederversammlung abhalten möchte. Dieser vereinsrechtliche Grundsatz im Vereinsrecht hat 2023 eine weitgehende Änderung erfahren. Im Zuge der Corona-Pandemie sollte es Vereinen erleichtert werden, auch ohne explizite Satzungsgrundlage eine Mitgliederversammlung hybrid (also in Präsenz und digital) oder komplett digital durchzuführen. Hierzu erlaubt das Vereinsrecht neuerdings dem für die Einberufung der Mitgliederversammlung zuständigen Organ (beim BVB ist das der Vorstand des e.V.), auch ohne entsprechende Satzungsgrundlage eine hybride Mitgliederversammlung anzusetzen.
Diese Möglichkeit greift aber nur dann, wenn die Satzung einen hybriden Modus nicht ausschließt. Das heißt: Wenn die Satzung keine Vorgaben zum Veranstaltungsmodus macht, ist für eine hybride Veranstaltung eine Satzungsänderung durch Beschluss der Mitglieder nicht notwendig; beim BVB zum Beispiel würde dann ein Vorstandsbeschluss ausreichen. Die Satzung von Borussia Dortmund deutet den Veranstaltungsmodus an verschiedenen Stellen an. So ist etwa in § 11 Abs. 3 von „anwesenden“ Mitgliedern die Rede, die stimmberechtigt sind. Auch werden Beschlüsse gemäß § 16 Abs. 2 „durch Handaufheben“ gefasst – Anknüpfungspunkte also, die auf die Notwendigkeit einer physischen Anwesenheit hindeuten. Es wäre aber wohl ebenso gut vertretbar, dass „anwesend“ auch „digital anwesend“ bedeuten könnte; „Handaufheben“ könnte genauso gut eine elektronische Stimmabgabe sein. Auch könnte man mit guten Argumenten darauf verweisen, dass bei der Verabschiedung der gegenwärtigen Regelungen in der BVB-Satzung vor einigen Jahren solche digitale Varianten schlicht nicht bedacht worden sind.
Kurz zurück zur aktuellen Auseinandersetzung: Denn Anhänger*innen von Watzke fordern gerade schon für dieses Jahr eine hybride Mitgliederversammlung. Ihr Kalkül: Während Lunow die aktive Fanszene wohl an den Veranstaltungsort mobilisieren und sich damit einen Wahlvorteil verschaffen könnte, könnte Watzke mit seiner Bekanntheit bei einem breiteren Teilnehmer*innenfeld punkten. Ob das stimmt – ungewiss. Denn auch ein genau umgekehrtes Szenario ist denkbar: Wenn nur wenige Mitglieder vor Ort sind, ist das vor allem das traditionelle Vereinsestablishment, das Watzke seit über 20 Jahren in seiner Arbeit trägt. Den mindestens deutschlandweit verteilten Fans, fiele es leichter, sich online zuzuschalten, um dann dann für Lunow zu stimmen. Das zeigt: Das Thema darf nicht auf eine einmalige Personalfrage im Herbst 2025 verkürzt werden.
Viel spricht stattdessen dafür, dass Thema auf der nächsten Mitgliederversammlung für die übernächste Mitgliederversammlung zu diskutieren. Das höchste Vereinsgremium könnte so seine Zukunft selbst gestalten. Und in der Zwischenzeit könnten die noch offenen Fragen geklärt werden: Welche Rechte dürfen die digital zugeschalteten Mitglieder wahrnehmen? Wie wird der Zugang zur Versammlung kontrolliert – was ist das digitale Gegenstück zur (Mitglieder-)Ausweiskontrolle in der Halle? Wie wird sichergestellt, dass sich eine Person nicht zusätzlich zur eigenen Mitgliedschaft mit den Mitgliedsnummern von zum Beispiel Oma und Opa an drei Geräten parallel einloggt? Und wie wird verhindert, dass eine Person nicht in der Halle per Hand und zusätzlich am Handy digital abstimmt? Wie kannein technisch stabiles System gewährleistet werden, welches die Server nicht ähnlich überlastet wie das Ticketsystem? Und wie groß ist die Gefahr der Anfechtbarkeit der Versammlung, sollte es doch zu technischen Schwierigkeiten kommen? Denn auf all diese Fragen können Antworten gefunden werden. Die DFL als Fußball-Dachverband könnte zum Beispiel – statt noch einen Investorendeal zu versemmeln – eine Open Source-Software für digitale Mitgliederversammlungen für ihre Vereine mitentwickeln. Damit wäre das meiste einheitlich und damit rechtssicher geregelt. Auch für darüber hinausgehende individuelle Herausforderungen gibt es aber Lösungen, wenn man sich Zeit dafür nimmt.
Denn hier geht es nicht um die Frage eines Wettbewerbsvorteils für einen Präsidentschaftskandidaten, sondern um die Ausgestaltung der Vereinsdemokratie und ihre Weiterentwicklung für die Zukunft. Es ist eine große und bedeutsame Frage – gerade in 50+1-Land Deutschland.
Und wenn man an ihr mehr Menschen durch ein barrierefreieres Format beteiligen kann, dann wäre das in jedem Fall wünschenswert. Mitgliederversammlungen könnten so repräsentativer werden – und bei Bedarf auch einfacher häufiger stattfinden, wenn wichtige Entscheidungen, wie zum Beispiel der Rheinmetall-Deal, auf der Tagesordnung stehen. Statt weniger Mitbestimmung hinzunehmen, könnte es zu einer Trendumkehr kommen und die Rolle der Vereinsmitglieder wieder tatsächlich bestimmend für dessen Ausrichtung werden – so wie es bei 50+1 und im deutschen Vereinswesen generell ja auch gedacht ist.
Positiver Nebeneffekt: Die Demokratie beim BVB würde für die rund 220.000 BVB-Mitglieder so stärker erlebbar. Das hätte einen positiven Effekt für den BVB. Und würde seine Mitglieder auch über den Fußball hinaus an die Demokratie binden. Das zeigen Studien zu vergleichbaren Situationen in der Arbeitswelt: Da wo Betriebs- und Personalräte die Interessen ihrer Kolleg*innen vertreten, wird nämlich weniger AfD gewählt. Die Überlegung dahinter gilt dann natürlich nicht nur für den BVB, sondern auch für alle anderen Vereine.
Spannender als die Frage, wo sich Watzke und Lunow laut BILD-Schlagzeilen unterscheiden, finde ich darum die Frage, wie sie in Zukunft, wenn es nicht mehr um ihren persönlichen Vorteil geht, zu hybriden Mitgliederversammlungen stehen. Darüber statt über unsachliche Horrorszenarien sollten wir auf der Mitgliederversammlung des Ballspielvereins Borussia aus Dortmund im Herbst diskutieren. Und die Mitglieder aller anderen Vereine auf ihren Jahreshauptversammlungen auch.