Anwar El Ghazi hatte kurz nach den Angriffen der Hamas auf Israel geschrieben: „Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein.“ Daraufhin entschuldigte er sich bei den Verantwortlichen des FSV, die den Post als unangemessen bewerteten. Doch in zwei weiteren Posts verteidigte er seine Meinung und kündigte damit den internen Konsens mit dem Verein wieder auf. Mainz 05 hatte ihm daraufhin fristlos gekündigt. Gegen diese Kündigung ging El Ghazi wiederum vor dem Arbeitsgericht vor. Und bekam Recht – auch in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht. Der Vorsitzende Richter Andreas Budroweit betonte in seinem Urteil, dass die Social Media-Posts von El Ghazi von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.

Stefan Hofmann, Vereins- und Vorstandsvorsitzender des 1. FSV Mainz 05, sagt: „Wir haben die Entscheidung des Gerichtes zu akzeptieren, das in dem Verhalten und Handeln unseres Arbeitnehmers nach dem abscheulichen Attentat der Hamas in 2023 keine ausreichenden Gründe für eine fristlose Kündigung gesehen hat. Inhaltlich halten wir allerdings an unserer Position fest: Auf Basis der Werte und Überzeugungen, die Mainz 05 ausmachen, ist eine Weiterbeschäftigung von Personen, die sich im fundamentalen Widerspruch zu eben jenen äußern und verhalten auch in Zukunft ausgeschlossen.“

Dass Mainz auf das Thema so sensibel reagiert, liegt auch in der Gründungsgeschichte des Vereins begründet. Denn die beginnt so: Im März 1905 schloss sich im Café Neuf eine Gruppe junger Männer zusammen, um den neuen Sport Fußball in Mainz zu spielen. Was als „Wildes Gebilde“ begann, entwickelte sich schnell zu einem professionelleren Verein, unter dem damaligen Namen „1. Mainzer Fußballclub Hassia 05“. Dabei wurde Eugen Salomon im Alter von 17 Jahren zum ersten Vorsitzenden gewählt.

Am 13. Juni 1932 besuchte dann jedoch Adolf Hitler Mainz. Vor über 20.000 Menschen sprach er am Abend im Stadion am Fort Bingen, dem damaligen Stadion der 05er. Laut Mainzer Anzeiger äußerte sich der Verein an diesem Tag zur Neutralität: „Um allen umlaufenden Gerüchten die Spitze abzubrechen, sieht sich die Vereinsleitung veranlasst, zu erklären, dass der Sportplatz am Fort Bingen sämtlichen Parteien und Bewegungen, vorausgesetzt, dass sie staatserhaltend sind, auf Wunsch zur Verfügung gestellt wird. Der Verein bleibt gemäß seinen Satzungen nach wie vor politisch und zeitlos vollkommen neutral. Gegen alle dem Verein und dessen Mitglieder schädigende Gerüchte wird die Vereinsleitung strengstens vorgehen.“ Heute muss man über diese Naivität schockiert sein.

Am 30. Januar 1933 wurde Hitler dann zum Reichskanzler ernannt, woraufhin unmittelbar danach 14 süddeutsche Fußballvereine die sogenannte „Stuttgarter Erklärung“ veröffentlichten. Darin verpflichteten sie sich, jüdische Mitglieder aus den Vereinen auszuschließen. Mainz 05 und Wormatia Worms gehörten als einzige prominente Klubs der Region damals zwar nicht zu den Unterzeichnern, aber woran das genau lag, ist heute nicht eindeutig belegt. Die Tatsache, dass beide Vereine an diesem Tag ein wichtiges Spiel gegeneinander austrugen und deshalb nicht zur Versammlung nach Stuttgart fahren konnten, könnte eine Erklärung sein. Das Bewusstsein für den jüdischen Vereinsgründer Salomon, der immer noch im Verein aktiv war, eine andere.

Gegen die politische Begründung spricht allerdings, dass sich auch Mainz 05 schon im August 1933 schließlich auf einer Generalversammlung zum nationalsozialistischen Staat bekannte und zur Gleichschaltung bereit erklärte. In der Folge wurden jüdische Mitglieder aus dem Verein gedrängt und vom Vereinsleben ausgeschlossen. Darunter eben auch Vereinsgründunger Salomon. Als Jude war Eugen Salomon aber natürlich auch darüber hinaus zunehmender Ausgrenzung und politischen Einschränkungen ausgesetzt. Die Familie Salomon floh darum noch 1933 vor den Nazi-Faschist*innen nach Frankreich. Trotz der schwierigen Zeiten gelang es ihm dort erst einmal, sich ein neues Leben aufzubauen. Am 6. Oktober 1942 jedoch wurde Eugen Salomon von den Nazis verhaftet und in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurde er am 14. November 1942 im Alter von 54 Jahren ermordet.

In der Folge geriet Salomon über Jahrzehnte auch in Mainz in Vergessenheit. Erst im Jahre 2010 wurde der fast vergessene Eugen Salomon aufgrund der kontroversen Namensbenennung einer Mainzer Straße der Öffentlichkeit wieder bekannt. Im Zuge der Bauarbeiten der Coface Arena des 1. FSV Mainz 05 in Bretzenheim beschloss der dortige Ortsbeirat, den Namen Arenastraße für die Zufahrtsstraße vom Europa-Kreisel zum Stadion zu vergeben. Die Supporters Mainz, der Dachverband der Fans und Fanclubs von Mainz 05, schlugen stattdessen den Namen Eugen-Salomon-Weg oder -Straße vor. Nach einer breiten öffentliche Debatte folgte die Kommunalpolitik dem Vorschlag der Fans. Seitdem ist Eugen Salomon beim FSV Mainz 05, seinem Verein, wieder sehr präsent und der Klub bekennt sich zu seinen jüdischen Wurzeln und leistet viel Erinnerungsarbeit.

Die aktuelle Auseinandersetzung im Umfeld der 05er ist aber auch eine gute Gelegenheit an andere jüdische Protagonisten des frühen deutschen Fußablls zu erinnern: Kurt Landauer zum Beispiel, der bis zur Machtergreifung Hitlers Präsident des FC Bayern Münchens war und nach dem zweiten Weltkrieg sogar in das Amt zurückkehren konnte. Auch seine Geschichte ist heute vor allem wieder wegen dem politischen Engagement von Ultras präsent.

Ein weiterer Fußball-Pionier war derweil Herrmann Horwitz. Horwitz war Mannschaftsarzt von Hertha BSC, er war einer der ersten seiner Art bei einem Fußballverein, es handelte sich damals sogar noch um eine ehrenamtliche Tätigkeit. Kranke Sportler gingen zum Arzt, dass auch gesunde einen aufsuchten – zur Prävention, zur besseren Regeneration, zur Überwachung – war damals, Ende der 1920er Jahre, noch komplett neu. Horwitz schrieb sogar eines der ersten Bücher der neuen Gattung Sportmedizin: Die Sportmassage, auch das geriet lange in Vergessenheit. Aber dass das Buch die ganze Zeit über in der Berliner Staatsbibliothek, rief Horwitz wieder in Erinnerung: Fußballfans der Hertha haben es dort nämlich entdeckt und anschließend seinen Lebenslauf rekonstruiert.

Und der ging so: Sicher mindestens 12 Jahre lang, von 1923 bis 1935 war Horwitz Mannschaftsarzt bei Hertha BSC. Es waren die bis heute sportlich erfolgreichsten Jahre des Vereins: Sechs Mal in Folge erreichte die Mannschaft um den legendären Hanne Sobek das Finale zur Deutschen Meisterschaft, zwei Mal, in den Jahren 1930 und 1931, gewann man sie sogar. Das sind bis heute auch die einzigen Meistertitel Herthas. Wie wichtig Herrmann Horwitz für den Erfolg war, bewist, dass die Spieler sogar eine Liedstrophe auf ihren Arzt dichteten: „Dr. Horwitz, unser Einsenbart, au au au. Gar wundersame Mittel hat, au au au. Er schaut uns an mit tiefem Blick, au au au. Schon zieht die Krankheit sich zurück, au au au.“

Doch am 15. September 1935 traten dann die Nürnberger Rassengesetze in Kraft. Wahrscheinlich kurz vor oder nach Verabschiedung der Rassengesetze legte er sein Amt als Mannschaftsarzt nieder. Später, vermutlich im Herbst 1938, wurde er sogar vom Verein ausgeschlossen. Unbekannt ist bis heute, warum der Rausschmiss so spät stattfand. Denn schon 1933 hatte ein strammer Nazi-Faschist den bisherigen Vereinsvorsitzenden, SPD-Mitglied, abgelöst und der Zweck des Sportvereins wurde zur „leiblichen und seelischen Erziehung seiner Mitglieder im Geiste des nationalsozialistischen Volksstaates“, abgeändert. Wie es nach 1938 mit Horwitz weiter ging, ist nicht eindeutig überliefert. Fest steht: Auch er wurde nach Auschwitz deportiert, dort unter anderem als Lagerarzt eingesetzt, wobei er möglicherweise anderen Häftlingen das Leben retten konnte. Er selbst überlebte Auschwitz jedoch nicht. Sein genaues Todesdatum ist allerdings unbekannt.

Dass aber auch jüdische Vereinsgründer keine Seltenheit waren zeigt beispielsweise die Geschichte der SG Wattenscheid 09: Dort war Paul Cohn Gründungsmitglied des im Jahre 1909 gegründeten Vereins, bei dem er auch als Abwehrspieler fungierte. Cohn versuchte noch 1934 zur 25-Jahr-Feier des Vereins zu gelangen, doch der neue, NSDAP-treue Vorsitzende, verhinderte seinen Zutritt. Sein weiterer Werdegang ist nicht bekannt, überliefert nur, dass er anschließend auch emotional vollends mit „seinem“ Verein brach – vollkommen nachvollziehbar. Die Geschichte Paul Cohns rückte 2014 auch wieder ein Fan ins Bewusstsein des Vereins: Christian Mose beantragte das Vereinsheim nach dem Vereinsgründer zu benennen, was die Mitglieder fast einstimmig annahmen. Seitdem ist die Gründungsgeschichte auch beim Revier-Klub wieder präsent.

All das zeigt: Fußball ist Vielfalt und Antisemitismus Gift für unseren Sport. Das hat natürlich nichts mit Anwar El Ghazi zu tun. Aber FanLeben.de findet: Es ist wichtig, kulturelle Offenheit zu betonen anstatt das Trennende zu suchen. Und dazu wollen wir jeden Anlass nutzen.

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Von admin