Die Champions League – Europas Königsklasse. In diesem Wettbewerb treffen die besten Mannschaften vom europäischen Kontinent aufeinander. Die besten Mannschaften vom europäischen Kontinent und ein Team aus Asien: Qarabağ Ağdam aus Aserbaidschan ist die erste asiatische Mannschaft, die sich für die frühere Gruppenphase bzw. die heutige Ligaphase der Champions League qualifiziert hat. Möglich ist das, weil der aserbaidschanische Fußballverband zur UEFA gehört. Und dennoch schreibt Qarabağ Ağdam damit Geschichte. Nach dem Spiel musste der Gegner sogar seinen Trainer entlassen – dazu gleich mehr. Denn auf jeden Fall ist es jetzt an der Zeit, Qarabağ Ağdam einmal ausführlich vorzustellen.
Die Wurzeln von Qarabağ Ağdam reichen zurück ins Jahr 1951, als in Ağdam ein Stadion errichtet wurde und unter dem Namen Məhsul erstmals ein professionelles Team entstand. In den folgenden Jahrzehnten erlebte der Verein wechselhafte Zeiten, trat zeitweise als Şəfəq oder Kooperator auf und war immer wieder von finanziellen Schwierigkeiten bedroht. Doch 1987 wechselte er zu seinem heutigen Namen und schon ein Jahr später feierte Qarabağ mit der Meisterschaft der Aserbaidschanischen SSR den ersten großen sportlichen Erfolg.
Das Jahr 1993 markierte dann jedoch eine Zäsur. Im Zuge des ersten Karabach-Krieges wurde die Stadt Ağdam von Armenien erobert und weitgehend zerstört, das heimische Stadion İmarət war ebenfalls unbrauchbar. Der Klub musste nach Baku umsiedeln und wurde seither zum „Flüchtlingsverein“ ohne Heimat.
Der Karabach-Konflikt, das kurz zur Einordnung, ist eine jahrzehntelange militärische Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschan und Armenien rund um die autonome Region Bergkarabach. Armenien gilt dabei als Demokratie, während Aserbaidschan ein autoritäres Regime ist.
Doch erst einmal zurück zum Sport. Denn ausgerechnet in dieser Phase gelang dem Klub der größte sportliche Triumph bis dahin: Qarabağ gewann im gleichen Jahr das Double aus Meisterschaft und Pokal. Seither ist der Verein ununterbrochen Mitglied der Premyer Liqası, der höchsten Liga Aserbaidschans, und hat sich dort als feste Größe etabliert. Besonders ab der Saison 2013/14 folgte eine Serie von Meisterschaften, die den Klub heute zum dominierenden Team des Landes machen. Am Ende dieser Entwicklung steht jetzt die erstmalige Qualifikation für die Champions League.
Eine zentrale Rolle für diesen Aufstieg spielte die Übernahme durch die Azersun Holding im Jahr 2001. Das große aserbaidschanische Unternehmen mit Schwerpunkt in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion sicherte dem Verein die finanzielle Basis. Unter der Präsidentschaft von Tahir Gözəl, der den Klub seit 2015 leitet, sowie unter Trainer Gurban Qurbanov, der seit vielen Jahren im Amt ist, wurde – auch dank massiver Investitionen – eine kontinuierliche sportliche und organisatorische Entwicklung möglich. Heute trägt Qarabağ seine Heimspiele in der 2015 eröffneten Azersun Arena in Baku aus, der Name trügt, denn Platz bietet die Spielstätte nur für rund 5.800 Zuschauer*innen.
Dabei zeigt sich das aktuelle Team sportlich extrem anpassungsfähig: Unter Trainer Gurban Qurbanov setzt Qarabağ in der heimischen Liga, die man wie gesagt dominiert, stark auf Ballbesitz und strukturierten Spielaufbau. Es werden viele kurze Pässe gespielt, das Spiel wird häufig von hinten heraus konstruiert, und es gibt Positionswechsel, um Räume zu schaffen. Doch international, also wenn Qarabağ nicht auf das Tempo der Gegner im Mittelfeld mithalten kann, wird versucht, Umschaltmomente effizient zu nutzen. Das Team steht dann insgesamt tiefer und verteidigt geschlossen, spielt geduldig. Besonders deutlich sah man dies im im ersten Champions-League-Spiel der Vereinsgeschichte gestern gegen Benfica Lissabon, das nach 0:2-Rückstand noch 3:2 gewonnen werden konnte. Benfica entließ unmittelbar danach – wir erinnern uns – sogar seinen Trainer. Zuvor wurden bereits Shelbourne aus Irland, der KF Shkëndija aus Nordmazedonien und in den Play Offs der ungarische Rekordmeister Ferencváros Budapest aus dem Wettbewerb geworfen.
Blicken wir aber, weil es wirklich wichtig ist, nochmal auf die Rolle des Klubs neben dem Platz. Denn gerade gesellschaftlich hat Qarabağ Ağdam dennoch und vor allem immer noch eine besondere Bedeutung. Für viele Aserbaidschaner*innen steht der Verein sinnbildlich für das Schicksal der Binnenvertriebenen. Sie sehen ihn darum auch als ein Symbol der nationalen Einheit. Internationale Auftritte in Europa dienen daher nicht allein dem sportlichen Prestige, sondern werden von Fans und Politik gleichermaßen als Bühne verstanden, um die Geschichte Karabachs sichtbar zu machen.
Doch gerade hieran gibt es auch internationale Kritik. Zwar präsentiert sich Aserbaidschan im Zusammenhang mit Qarabağ Ağdam gern als Opfer des Verlusts von Heimat und Identität, doch die militärische Rückeroberung weiter Teile Karabachs 2020 und die vollständige Einnahme der Region 2023 gingen ebenso blutig und mit einem Verlust demokratischer Rechte für die Menschen in der Region von Statten. Menschenrechtsorganisationen kritisieren dabei unter anderem die Vertreibung der armenischen Bevölkerung, mangelnde Sicherheitsgarantien vor allem für regionale Minderheiten und die enge Verflechtung von Fußball und Politik, bei der der Verein symbolisch für staatliche und nationalistische Narrative instrumentalisiert wird.
Das grausamste Beispiel ist ein Vorfall aus dem Jahr 2020. Damals postete der damalige Medienverantwortliche von Qarabağ, Nurlan Ibrahimov, in sozialen Medien einen Aufruf, „alle Armenier, Alt und Jung, ohne Unterschied“ zu töten. Ibrahimovic wurde daraufhin von der UEFA lebenslang gesperrt, der Verein wiederum kam mit einer Geldstrafe von läppischen 100.000€ davon. Der aserbaidschanische Militärexperte und Journalist Bahruz Samadov kritisiert in diesem Zusammenhang öffentlich das, was er als „Nationalistische Militarismus“ bezeichnet. Er beschrieb unter anderem, dass die Schließung von Verkehrswegen wie dem Lachin-Korridor sowie bestimmte militärische Operationen Teil eines Versuchs seien, Nagorno-Karabach ethnisch zu säubern. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert zudem eine Ausstellung in Aserbaidschan, bei der die Helme getöteter armenischer Soldaten inszeniert werden, da dies Entmenschlichung und Feindbilder fördert.
Fußball – das zeigt die Geschichte von Qarabağ Ağdam – ist politisch. Und eine Gelegenheit, viel über Politik zu lernen. Zumindest dafür hat sich die Teilnahme von Qarabağ Ağdam an der Champions League gelohnt: Dass wir spätestens jetzt mehr wissen über die Menschenrechtsverstöße in Karabach und Aserbaidschan.