Heute gibt es eine Kriminalgeschichte. Es geht um einen waschechten Coup. Es geht darum, wie ein windiger Geschäftsmann die Demokratie abgeschafft hat, still und heimlich, aber doch auf offener Bühne. Es geht um das moderne Atlético Madrid.

Für diesen Krimi müssen wir in der Zeit etwas zurückreisen, gut 40 Jahre, um genau zu sein.

Atlético Madrid, gegründet 1903, klassischer Arbeiterverein der Hauptstadt, Gegengewicht zum reichen und bürgerlichen Real, hatte die Glanzzeiten der 1970er-Jahre hinter sich gelassen und war in den 1980er-Jahren zunehmend ins Mittelmaß abgerutscht – sportlich instabil, finanziell angeschlagen, organisatorisch zersplittert.

Atlético stand mit dieser Schieflage nicht allein da: Auch andere Traditionsklubs wie Real Betis oder Sporting Gijón kämpften ums Überleben. Kurzum: Die 1980er-Jahre waren für viele spanische Fußballvereine finanziell fatal. Und Atlético war hier eben keine Ausnahme. Ende der 80er-Jahre war Atlético also massiv überschuldet. Rund 2,5 Milliarden Peseten (etwa 13 Millionen Euro) an Schulden drückten den Verein, was für damalige Verhältnisse eine existenzbedrohende Situation gewesen ist.

Zumindest für den Verein. Ein Mann hingegen sah damit seine historische Chance gekommen: Jesús Gil y Gil. Er ist der Schurke bei unserem Coup, denn ersollte den Verein für immer verändern – und das ist wirklich keine Untertreibung.

Jetzt aber, zu Beginn des Krimis, will Gil erst einmal Präsident von Atlético Madrid werden und versprach dafür den Fans im Falle seiner Wahl den sportlichen und finanziellen Wiederaufstieg. Dafür brachte er die nötige Finanzkraft mit, zumindest auf dem Papier. Gils Reichtum stammte dabei aus der Baubranche, insbesondere aus umstrittenen Großprojekten an der Costa del Sol: 1969 hatte er bei einem Bauunglück in Segovia 58 Todesopfer zu verantworten und saß dafür kurzzeitig im Gefängnis, wurde aber später von Diktator Franco begnadigt. Ein Job als Präsident des Fußballvereins kam ihm da gerade recht, um sein Image wieder zu verbessern.

Also trat Gil, wie man es von einem Krimi-Bösewichten erwartet, nun als „Mann des Volkes“ auf – laut, irgendwie optimistisch, aber vor allem auch populistisch. Sein Wahlkampf bei den Präsidentschaftswahlen von Atlético war geprägt von markigen Versprechen und offenen Angriffen auf die „Versager“ in der bisherigen Klubführung. Viele Mitglieder fühlten sich von seinem energischen Auftreten angesprochen. Sie wollten den Bruch mit dem Niedergang der letzten Jahre. Und sie organisierten dem Bauunternehmer eine Mehrheit: Jesús Gil y Gil wurde am 26. Juni 1987 zum Präsidenten von Atlético Madrid gewählt. Seine Präsidentschaft dauerte bis zum Jahr 2003, als er aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Er ist der letzte demokratisch gewählte Präsident in der Geschichte des Vereins. Denn jetzt kommen wir zu seinem Coup.

Und bei dem hatte er politische Unterstützung: Denn nicht nur bei Atlético Madrid wurde in dieser Zeit über die Zukunft des Fußballs diskutiert, auch die spanische Politik beschäftigt sich mit der Finanzkrise bei zahlreichen Topklubs. Kurze Einordnung: Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war der Neoliberalismus auf dem Vormarsch. Auch wenn der Fußball in Spanien populär war, staatliche Eingriffe in diesem Markt waren es damals nicht. Um dem grassierenden Chaos in den Vereinsfinanzen Herr zu werden, beschloss die spanische Regierung 1990 deswegen das sogenannte „Gesetz über Sportaktiengesellschaften“ (Ley del Deporte). Die Idee war ein Produkt ihrer Zeit: Profiklubs mit schlechtem wirtschaftlichen Kurs sollten sich in Kapitalgesellschaften umwandeln – sogenannte Sociedades Anónimas Deportivas (S.A.D.). Die Hoffnung war, durch mehr Transparenz und Eigenverantwortung private Investitionen zu mobilisieren und so eben auch staatliche Rettungsaktionen zu vermeiden. De Facto bedeuteten diese Zwangsausgliederungen aber auch ein Ende der klassichen Vereinsstruktur und damit den drohenden Kontrollverlust der Mitglieder.

Für viele Vereine bedeutete das Gesetz damit einen tiefgreifenden Einschnitt, bei allen betreffenden Klubs verloren die bisherigen Mitgliedern durch die neue Organisationsform an Einfluss – aber Atlético Madrid wurde seinen Mitgliedern regelrecht geraubt.

Denn nach dem neuen Gesetz mussten Atlético und andere Klubs rasch die Umwandlung in eine S. A. D. vollziehen und in kurzer Zeit neues Kapital beschaffen.

In der Theorie konnten sich an der Umwandlung auch Fans und Mitglieder beteiligen und ihnen zumindest Gewicht in der neuen Struktur geben. Doch in der Praxis lief es anders: Atlético-Präsident Gil nutzte seine Position, um sich zusammen mit engen Vertrauten die Mehrheit der Anteile selbst zu sichern. Unter ihnen: sein Sohn Miguel Ángel Gil Marín sowie der Geschäftsmann und heutige Klubpräsident Enrique Cerezo.

Klingt noch nicht nach Coup? Ein Vergleich hilft, den Vorgang einordnung zu können. Also bitte: Auch Betis Sevilla musste sich im Zuge des neuen Gesetzes aufgrund von Schulden in eine S. A. D. umwandeln. Die Mitglieder des Vereins stimmten der Umwandlung sogar in einer Mitgliederversammlung zu. Ihre Bedingung: Bei der anstehenden Kapitalbeschaffung sollte es Finanzierungsrunden geben, die ausschließlich den bisherigen Mitgliedern offenstehen. Zwei solcher Runden gab es auch. In einer dritten konnten sich dann auch Fans beteiligen, die bislang nicht Mitglied im Verein waren. Knapp 400 Millionen Peseten kam so zusammen, doch knapp 1.200 Millionen wurden benötigt, um die Schulden zu decken. Die Differenz steuerte dann der bisherige Vizepräsident des Vereins, Manuel Ruiz de Lopera, bei, der damit zum Mehrheitsgesellschafter wurde. Aber immerhin auf einem mehr oder weniger demokratischen Weg.

Die Umwandlung bei Atlético setzten Gil, sein Sohn und Geschäftsmann Cerezo hingegen ganz ohne Mitgliederversammlung, ohne Abstimmung, ohne offizielle Ausschreibung durch. Mit ihrer Macht als Vereinspräsidium vertickten sie die Anteile an der neuen S. A. D. direkt an sich. Die damals über 35 000 Mitglieder wurden also weder offiziell informiert noch hätten sie die Möglichkeit gehabt, sich selbst an der neuen S. A. D. zu beteiligen. Viele erfuhren sogar erst im Nachhinein, dass der Verein, den sie über Jahrzehnte mit aufgebaut hatten, nun mehrheitlich in privaten Händen lag. Und die, die versuchten Anteile zu erwerben, wurde gesagt, dass alle Anteile bereits verkauft seien.

Aber es wird noch krasser: Jesús Gil und Enrique Cerezo hinterlegten das zur Umwandlung in eine S.A.D. nötige Kapital nämlich noch nicht einmal dauerhaft, sondern ließen das Geld per Kredit nur kurzzeitig auf ein Konto überweisen – gerade lange genug, um den gesetzlichen Nachweis zu erbringen. Unmittelbar nach der Registrierung der S. A. D. wurde das Geld dann wieder abgezogen. So täuschten sie das zur Übernahme der S. A. D. benötigte Eigenkapital nur vor, ohne tatsächlich eigenes Vermögen einzusetzen. Trotzdem konnten sie so knapp 95% der Stimmrechte übernehmen. Aber die Schulden blieben. Dabei war ja das Erreichen der Schuldenfreiheit das einzige Ziel der S. A. D.-Gründung.

Auf eine solche Weise wandelte sich kein anderer Verein um. Überall sonst gab es – wie am Beispiel von Real Betis beschrieben – zumindest eine Abstimmung auf einer Mitgliederversammlung und ein Vorkausrecht für die bisherigen Mitglieder. Und überall deckten die neuen Investoren auch tatsächlich die Schulden. Das ist also doch wirklich ein Coup. Die Atlético-Fans protestierten darum auch. Und wie es sich für einen Krimi gehört, klagen sie auch. Letzteres sogar mit Erfolg.

2003, mehr als ein Jahrzehnt nach der Privatisierung, erklärte ein spanisches Gericht die Umwandlung von Atlético Madrid in eine S. A. D. für rechtswidrig. Die Begründung: Die Hauptaktionäre hätten zum Zeitpunkt des Anteilserwerbs eben nicht den gesetzlich geforderten Kapitalnachweis erbracht. Außerdem hätten Gil und sein Umfeld die Mitglieder an der Umwandlung beteiligen müssen. Auch hätten sie nach der Umwandlung allen bisherigen Vereinsmitgliedern eine weitere Beteiligung an der S. A. D. ermöglichen müssen. Trotz allem Neoliberalismus durfte man den Fans ihren Verein nicht klauen. Und vor allem darf man nicht mit Fake-Einlagen betrügen. Damit, so das Urteil, sei die Mehrheitsübernahme ungültig.

Doch der Krimi geht noch weiter. Denn eine Rückabwicklung der S. A. D.-Gründung blieb trotzdem aus. Das Urteil wurde nie vollstreckt. Denn Gil und sein Umfeld erzwangen Berufungsverfahren, so kam es zu Fristabläufen, außerdem gab es politische Hürden, die Rückabwicklung war von den Gesetzgebern schließlich nicht gewollt. Letztlich behielten Gil Marín und Cerezo so ihre Anteile und verwalten sie bis heute. Die einstige Mitgliederkontrolle ist damit dauerhaft abgeschafft. Coup und Krimis haben eben selten ein Happy End.

Atlético Madrid entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten sportlich durchaus erfolgreich: spanischer Meister 2014, regelmäßiger Champions-League-Teilnehmer, seit 2017 spielt man sogar in einem neuen, modernen Stadion. Doch der Preis war hoch: Die demokratische Kultur des Vereins wurde durch eine Konzernstruktur ersetzt, in der Mitglieder keine Rolle mehr spielen.

Es ist eine schockierende Kriminalgeschichte, der Raum einer Demokratie. Und Coup, der bis heute nicht vergelten worden ist.

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Von admin