Immer wieder geraten besondere Vereine in tiefe Krisen, stürzen ab und die Fußballwelt fragt sich: Wie konnte es dazu kommen? In Deutschland geht es vielen Traditionsvereinen so. Doch darüber wird an vielen Stellen schon ausführlich diskutiert. Hier auf FanLeben.de schauen wir deswegen ins Ausland und widmen uns in detaillierten Recherchen der bitteren Realität von Vereinen, die wir im internationalen Fußball heute vermissen. Im ersten Teil der Serie ging es um Vitesse Arnheim, im zweiten Teil folgte Bursaspor, im dritten der FC Malaga, im vierten Wacker Innsbruck, im fünften Sheffield Wednesday und im sechsten die Western City Wanderers. Heute, in Teil sieben, erfahren wir wie aus englischen Fußballvereinen eigentlich die Unternehmen wurden, die sie heute sind. Los gehts aber erst einmal vor über 150 Jahren.
1874 suchten die Betreiber der anglikanischen Christ Church Sunday School ein neues Freizeitangebot, um mehr Mitglieder ins Umfeld der Gemeinde zu locken. So entstand vor über 150 Jahren ein neuer Fußballverein: Der Christ Church Football Club. Nur drei Jahre später nahm der Verein einen neuen Namen an, einen, unter dem ihn viele Fußballfans bis heute auch tatsächlich kennen: Bolton Wanderers. Die Geschichte des Namenswechsels ist schnell erzählt: Obwohl als Freizeitangebot für anglikanische Christ*innen in Bolton gedacht, sagte sich der Verein, wohl nach einem Streit mit dem Priester, von seinen Wurzeln los. Und weil er fortan häufig innerhalb Boltons die Spielfläche wechseln musste, nannte man sich Wanderers – die Wanderer*innen. In den 1920er Jahren gewann der Klub immerhin drei Mal den FA-Cup, ein dritter Triumph folgte 1958. Doch auch schon im 19. Jahrhundert erzielte der Klub einige beachtliche sportliche Erfolge. Und zwar aufgrund seiner Innovationskraft: In Bolton wurde quasi das klassische Scouting erfunden, Vereinsverantwortliche reisten nach Wales und Schottland, wo sich der Profifußball erst später durchsetzte und holte einige der talentiersten Spieler nach Nordwestengland, wo Fußballer bereits bezahlt werden konnten. Bolton lag dafür aber auch ideal, einerseits im Nordwesten, also nahe an Wales und Schottlands, und andererseits in einer damals aufstrebenden Industrieregion. Damit sprach man rasch auch Fans an. Die hohen Zuschauerzahlen der Wanderers, vor allem Arbeiter kamen zu den Spielen, sorgten dafür, dass der Klub 1885 Gründungsmitglied der Football League, der ersten Profiliga im Vereinigten Königreich wurde.
Die Geschichte der Bolton Wanderers bietet sich darum auch gut dafür an, um nachzuerzählen, wie das Geld in den englischen Fußball kam, wie aus den Vereinen erst Kapitalgesellschaften wurden und wie die sich später für Investoren öffneten. Positiv formuliert: Wie eine einzigartige Wachstumsstrategie gelang. Negativ formuliert: Wie der Fußball seine demokratischen Wurzeln verlor. Schauen wir es uns an.
Weniger Risiko für die ehrenamtlichen Gründer*innen
England stand am Ende des 19. Jahrhunderts mitten in einem sozialen und ökonomischen Wandel. In den Industriestädten des Nordens – Manchester, Preston, Sheffield, Bolton – war der Fußball längst kein bloßer Zeitvertreib mehr. Wie gesagt strömten zehntausende Arbeiter an den Wochenenden auf die improvisierten Tribünen, um ihre lokalen Helden spielen zu sehen. Mit der wachsenden Popularität wuchs auch der Druck: Talente wanderten dorthin, wo sie bezahlt wurden. Nicht nur nach Bolton. Doch noch war auch in England das Profitum noch nicht legalisiert. Stattdessen war Schwarzgeld an der Tagesordnung. 1885 zog der englische Fußballverband die Konsequenzen: Er legalisierte die Bezahlung von Spielern – und öffnete damit die Tür zum Profifußball.
Für die Vereine bedeutete dieser Schritt eine Zäsur. Wer Spieler verpflichten, ein Stadion unterhalten und den wachsenden Zuschauerstrom bewältigen wollte, brauchte eine solide finanzielle und rechtliche Grundlage. Die traditionelle Vereinsform, die auf Freiwilligkeit, Mitgliedsbeiträgen und Ehrenamt beruhte, konnte diese Anforderungen kaum noch erfüllen. Ein Fehlkauf oder ein sportlicher Abstieg konnte die gesamte Existenz des Vereins als solchen gefährden – aber auch die privaten Finanzen jener Männer, die den Verein trugen. Denn das englische Vereinsrecht unterscheidet sich in dieser Zeit von dem, was wir in Deutschland kennen: Im Fall einer Insolvenz hafteten alle Vereinsmitglieder mit ihrem Privatvermögen für den entstandenen Schaden. Ein immenses Risiko.
Die Antwort fand sich im britischen Gesellschaftsrecht. Die Gründung einer „Limited Company“, dem britischen Pandon zur Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ermöglichte es, den Club in eine juristische Person zu überführen. Damit war nicht mehr der einzelne Funktionär haftbar, sondern das Unternehmen selbst. Diese Haftungsbeschränkung schuf Sicherheit für die Beteiligten – eröffnete aber natürlich auch neue Wege der Kapitalbeschaffung. Anteile konnten verkauft, Investor*innen gewonnen und größere Summen für Stadionbauten oder Spielertransfers mobilisiert werden. In Bolton war dieser Schritt zugleich Ausdruck lokaler Verbundenheit. Die Anteile gingen meist an Unternehmer, Ladenbesitzer, Fabrikanten, bekannte und vor allem einflussreiche Gesichter der Stadtgesellschaft eben. Frühe Sportmäzene, wenn man so will. Für sie war der Club weniger Spekulationsobjekt als soziales Projekt, eine Quelle bürgerlichen Stolzes und gemeinschaftlicher Identität. Wer in Bolton Anteile an den Wanderers hielt, investierte nicht in Rendite, sondern in Reputation – und in die Stadt selbst. Rendite, na klar, gab es aber natürlich manchmal trotzdem.
Die Ära der regionalen Mäzene und ihr Ende
Die Bolton Wanderers waren mit dieser Entwicklung nicht allein. In jenen Jahren wandelten sich fast alle großen Clubs zu Aktiengesellschaften im Kleinen. Die Zahl der Anteile blieb meist begrenzt, der Einfluss lokaler Honoratioren bestimmend. ür die Bolton Wanderers bedeutete die Gründung ihrer Limited Company den Beginn einer Ära, in der der Fußball nicht mehr nur gespielt, sondern organisiert, bilanziert und verwaltet wurde. Es war der Moment, in dem der moderne Klub geboren wurde. Doch wer einmal Anteile ausgibt, schafft Eigentum, das übertragbar ist. Und wer Eigentum überträgt, öffnet die Tür für Märkte. Doch über Jahrzehnte gelang es, diese Tür geschlossen zu halten. Zwischen den Weltkriegen und auch in den Jahrzehnten danach führten die meisten Vereine ein Leben zwischen lokaler Verantwortung und wirtschaftlicher Enge. Fußball war zwar ein Massenphänomen, doch die Erträge reichten kaum über die Selbstkostendeckung hinaus. Eintrittsgelder stellten die wichtigste Einnahmequelle dar; Fernsehgelder gab es noch nicht, Trikotsponsoren gewannen gerade erst an Bedeutung und auch internationale Märkte existierten praktisch noch nicht. Auch die Bolton Wanderers bewegten sich in diesen Grenzen. Ihre Limited Company war formal ein Unternehmen, faktisch aber ein bürgerliches Kollektiv. Aktien lagen in den Händen von Geschäftsleuten, Fans oder Nachfahren früherer Direktoren – selten gehandelt, kaum bewertet, fast nie profitabel. Der Fußball, so schien es, war gegen die Logik des Marktes immun.
Der Wandel setzte spät ein – doch dann mit Wucht. In den 1980er Jahren begannen sich die ökonomischen Grundlagen des Spiels zu verschieben. Neue Medienmärkte und das wachsende Interesse von Sponsoren veränderten die Landschaft. Spätestens mit der Gründung der Premier League 1992 wurde der englische Fußball zu einem Wirtschaftsfaktor. Mit dem Geld kam das Interesse. Zunächst waren es britische Unternehmer*innen und Bauherren, die ihre Mittel in Fußballvereine lenkten – häufig aus Prestige, gelegentlich aus Leidenschaft, manchmal aus Kalkül. Doch mit der Professionalisierung des Finanzwesens und der Globalisierung der Kapitalmärkte änderte sich auch das Profil der Eigentümer*innen: In den 1980er und 1990er Jahren entdeckte der englische Fußball die Börse. Clubs wie Tottenham Hotspur (1983), Manchester United (1991), Chelsea (1996) oder Sunderland (1996) gingen an den London Stock Exchange – getrieben von der Hoffnung, frisches Kapital für Stadionprojekte, Transfers und Modernisierung zu gewinnen. Erstmals konnten so auch Privatanleger und Fonds Anteile erwerben. Ab der Jahrtausendwende wandelte sich der englische Fußball erneut – diesmal durch Globalisierung des Kapitals. 2003 kaufte der russische Ologarch Roman Abramowitsch kaufte den FC Chelsea, im Juli 20032005 erwarb US-amerikanischen Unternehmer Malcolm Glazer Manchester United. Es folgten arabische Staatsfonds, amerikanische Private-Equity-Häuser, Milliadäre aus aller Welt. Die Clubs wurden zum Investitionsobjekt. Rendite, Prestige, Sportwashing wie bei ManCity oder Newcastle United sowie geopolitischer Einfluss verbinden sich auf neue Weise. Zum letzten Mal wurde 2004 eine Mannschaft englischer Meister, die mehrheitlich im Besitz von Engländer*innen war: Das war damals Arsenal London, die allerdings ebenfalls einem amerikanischen Unternehmen gehören.
Schulden, rasante Eigentümerwechsel, sportliche Krisen: Wie es in Bolton weiterging
In Bolton wiederum setzte diese Entwicklung langsamer ein. Der Schritt an die Börse blieb für viele kleinere Traditionsvereine, insbesondere solche, die wie Bolton in dieser Zeit unterklassig spielten, lange unerreichbar oder unattraktiv. Die Wanderers, deren Wurzeln ja zudem tief in der lokalen Kultur lagen, hielten an der privaten Eigentümerstruktur fest. Als sie Ende der 1990er Jahre den Sprung in die Premier League schafften, flossen die neuen Fernsehgelder direkt in Infrastruktur, Kader und den Bau des Reebok Stadiums. Für englische Verhältnisse ziemlich bodenständig. Doch dieser Weg scheiterte: 2019 mussten die Bolton Wanderers Insolvenz anmelden.
Wie es dazu kam? So: In den 2000er Jahren erlebte Bolton seine glanzvollste Ära seit Jahrzehnten. Unter Trainer Sam Allardyce stieg der Club in die Premier League auf, spielte dort mit bemerkenswerter Konstanz – und qualifizierte sich sogar für den europäischen Wettbewerb. Doch der sportliche Erfolg hatte einen Preis. Um in der Premier League konkurrenzfähig zu bleiben, nahm der Verein Kredite auf, verpflichtete erfahrene, teure Profis wie Yay-Yay Okocha und Fernanrdo Hierro – und baute ein Kostenmodell, das nur bei dauerhaftem Erstligafußball tragfähig war. Als 2012 der Abstieg in die Championship folgte, brach das fragile Gleichgewicht zusammen. Denn die Einnahmen aus Fernsehgeldern halbierten sich, Sponsoren zogen sich zurück, aber der Kader blieb teuer. Über Jahre hielt Eddie Davies, ein Unternehmer aus Bolton, den Verein mit privaten Darlehen über Wasser. Davies war dabei eben kein Investor, sondern ein Mäzen, dem es um die Stadt und ihren Verein ging. Insgesamt 180 Millionen Pfund lieh er den Bolton Wanderers. Doch als Davies 2016 schwer erkrankte und später verstarb, hinterließ er ein Vakuum, das niemand zu füllen wusste. Seine Erb*innen verweigerte nämlich weitere Zuschüsse. Die Rückzahlung der Schulden wurde fällig.
Also mussten auch die Bolton Wanderers für externe Investoren öffnen. Nach 140 Jahren endete damit die enge Verwurzelung in der lokalen Community. In dieser Lage übernahm im März 2016 ein Konsortium um den Geschäftsmann Ken Anderson und den ehemaligen Fußballer Dean Holdsworth den Verein. Die Übernahme geschah unter hohem Zeitdruck – begleitet von unklaren Finanzierungszusagen, offener Buchführung und schmalem Eigenkapital. Anderson und Holdsworth versprachen Konsolidierung, doch es fehlten sowohl die Mittel als auch die Erfahrung, einen strukturell defizitären Club zu sanieren. Bereits nach kurzer Zeit traten Spannungen zwischen den beiden Investoren zutage. Holdsworth schied aus, Anderson übernahm die Kontrolle – allerdings ohne nachhaltige Strategie. Unter Anderson entwickelte sich Bolton zu einem Club im permanenten Ausnahmezustand. Die Mannschaft stieg 2017 zwar sportlich wieder in die Championship auf, doch die wirtschaftliche Basis blieb brüchig. Gehälter konnten oft nur verspätet gezahlt werden, Steuerverpflichtungen wurden gestundet, Gläubiger drängten. Statt langfristiger Restrukturierung folgte ein Krisenmanagement von Monat zu Monat. Anderson suchte wiederholt nach Käufern oder Investoren – ohne Erfolg. Gespräche mit potenziellen Interessent*innen zogen sich hin, Finanzzusagen platzten. In dieser Zeit verschärfte sich auch das Misstrauen zwischen Vereinsführung, Belegschaft und Fans. Transparenz fehlte, Vertrauen zerbröckelte. Der Tiefpunkte folgte 2019 als der Klub seinen Spielern keine Gehälter mehr zahlen konnte, das Trainingszentrum wurde gepfändet, es gab Punktabzug um Punktabzug und schließlich folge die überfällige Insolvenz und mit ihr der Abstieg in die Viertklassigkeit. Anschließend verkaufte Anderson den Klub an einen neuen Investor.
Realität heute: Dritte Liga (und geplatze Träume im Schatten von Pep Guardiola)
Immerhin: Heute spielen die Bolton Wanderers wieder in der dritten Liga, wurden da letztes Jahr 8., liegen gerade auf Platz 11. Ein Bolton-fremdes Investor*innenkonsortium um Sharon Brittan einerseits und ein eine Gruppe Genfer Ölhändler*innen andererseits kontrolliert den Klub. Einmal verloren konnten also auch die Bolton Wanderers nicht zur lokalen Eigentümer-Verwurzelung zurück.
Die Geschichte der Bolton Wanderers zeigt, wie logisch es war, den Fußball in England zu kommerzialisieren. Sie zeigt aber auch, wie anfällig dieses System ist. Jeder Schritt, der Wechsel von der Vereins- zur Kapitalstruktur und die Öffnung für externe Investoren hat Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Im Schatten gigantischer Erfolgsgeschichten wie der von Manchester City, die erst durch den Einstieg einer Invetmentgruppe aus Abu Dhabi zu einem Top-Team der Premier League wurden, liegen die Trümmer zahlreicher bedeutender Traditionsvereine mit spannender Geschichte.
Wie die eines Arbeitervereins, der im Umfeld einer angekanischen Kirche gegründet wurde und später auf ständig wechselnden Plätze die Herzen seiner Stadt gewann, bevor er ganz nebenbei das moderne Scouting mitprägte – und damit irgendwie ja auch seine größte Krise jemals, rund 140 Jahre später mitermöglichte.