Zwischen 1964 und 1985 herrschte in Basilien eine blutige Militärjunta. Politische Gegner wurden verfolgt. Unschuldige verschwanden. Niemand war frei.
Für den brasilianischen Traditionsverein SC Corinthians Paulista, zwischen 1978 und 1984 angeführt von einem brillianten Mittelfeldspieler mit dem Namen Sócrates, schillernder Strar des Klubs und zeitweise sogar Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft, ein unerträglicher Zustand. Denn die Geschichte von Corinthians beginnt mit anarcho-sozialistischen Arbeiter*innen, die den Verein begründet haben und deren Denken den Klub auch während der Militärdiktatur prägt. Personalisiert vor allem in Sócrates, der in der trainingsfreien Zeit Marx las – nicht Mao wie der deutsche Kultspieler Paul Breitner.
Sócrates und seine Mitstreiter hegen einen Plan: Gerade in dieser politisch Düsteren Zeit wollen sie mit ihrem SCCP wieder einmal zeigen, dass es auch anders geht. Mit Waldemar Pires wird 1982 ein neuer Vereinspräsident gewählt, auch er stammt aus der politischen Linken und ist – mehr noch als sein Vorgänger im Amt – mutig und experimentierfreudig. Denn nachdem Corinthians 1981 eine sehr schwache Saison gespielt hatte, tauschte Pires mit Unterstützung seines Kapitäns den Sportdirektoren aus. Neuer Sportchef wurde Adilson Monteiro Alves. Und das ist bemerkenswert, denn Alves war kein Fußballfachmann, sondern Soziologe.
Gemeinsam mit Pires und Sócrates entwickelt er darum die Corinthians-Demokratie. Die Idee war simpel: Es wurde ein System der Selbstverwaltung installiert, in dem Spieler, sportliche Leitung und Präsidium wichtige Entscheidungen wie Neuverpflichtungen oder Aufstellungen durch Abstimmungen trafen. Jeder hatte bei jeder Entscheidung eine Stimme – egal ob Trainer, Spieler, Mitarbeiter oder Funktionär.
Der Unterstützung seiner Fans konnte sich der Verein dabei sicher sein. Corinthians ist bis heute in der gesellschaftlichen Linken fest verwurzelt. In den 70er und 80er Jahren forderten die Fans in Stadien darum auch immer wieder die Rückkehr zur Demokratie in Brasilien – mit Schlachtrufen und Bannern an den Spielfeldbegrenzungen.

In Deutschland scheiterte ein ähnliches Experiment jahrzehnte später rasch und spektakulär: 2008 kooperierte Fortuna Köln mit der Website „meinfussbalklub.de“. Die Idee war ähnlich: Fans sollten online über alle wichtigen Entscheidungen abstimmen dürfen. Doch de Facto hatte die Fortuna nur Anteile an der Fußballspielbetriebsgesellschaft an die Website-Betreiber verkauft. Und die gewährten den Usern dann keine verbindliche Rechte. Eine Fortuna-Köln-Mitarbeiterin spottete 2009: „Am Ende haben die Fans über die Website nur durchgesetzt, dass es bessere Halterungen für größere Getränkebestellungen am Bierwagen gibt.“
Da hatten sie bei Corinthians radikalere Ideen.
Eine überrascht auf den ersten Blick: Der Verein setzte sich dafür ein, dass Trikotwerbung erlaubt würde. Ein Trick. Denn als entsprechende Schriftzüge tatsächlich erlaubt wurden, schrieb sich Corinthians auf die Trikotbrust: „Diretas já“ – Direktwahlen jetzt.
Das revolutionäre Vorgehen trug dabei aber auch sportlich und ebenso wirtschaftlich Früchte: Die Mannschaft gewann die prestigeträchtige Staatsmeisterschaft von Sao Paulo 1982 und 1983. Zudem konnte Corinthians während der Selbstverwaltungsphase all seine Verbindlichkeiten abbauen und erwirtschaftete in der nächsten Spielzeit sogar einen Gewinn von mehreren Millionen.
Die Militärdiktatur aber beendete all das freilich nicht.
Das musste auch Sócrates einsehen. 1984 wagte der damals populärste Fußballer des Landes darum noch einen weiteren Versuch: Er kündigte an, Brasilien verlassen zu wollen, wenn es keine freien Wahlen gebe. Durchsetzen konnte er sich damit zuerst nicht, er wechselte darum nach Europa zum AC Florenz. Doch ein Jahr später, 1985, wurde eine Verfassungsänderung beschlossen und Brasilien kehrte zur Demokratie zurück.
Sócrates blieb Corinthians bis zu seinem Tod verbunden. Er starb 2011 – nur Stunden später, am selben Abend sicherte sich der Klub, der bis heute nur seinen Mitgliedern gehört und keine Investoren aufnimmt, seine fünfte brasilianische Meisterschaft.
Der Kampf um die Demokratie zieht sich derweil weiter durch die Geschichte des SC Corinthians Paulista: Als 2022 der abgewählte Präsident Jair Bolsonaro offen mit einem rechtsradikalen Staatsstreich kokettierte, waren es Corinthians-Fans, die sofort gigantische – und auch Fan-Lager-übergreifende – Demonstrationen organisierten, auch, um einen Aufmarsch des Bolsonaro-nahen Militärs zu verhindern. Mit Erfolg: Heute ist der damalige Wahlsierger, der Linkssozialist Lula da Silva, Präsident Brasiliens.
Übrigens: Die Männer- und die Frauenmannschaft Corinthians‘ tragen heute das selbe Trikot – ein bewusstes Zeichen, auch, dass es aus zwei Farben, schwarz und weiß, zusammengesetzt ist, ist eine eindeutige Botschaft: Hier ist man in Vielfalt geeint, beim SCCP kann man zusammenwachsen und dann gemeinsam großes Bewirken.
Fazit: Die Idee der Vereinsgründer*innen war es, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen sich praktisch Solidarität leisten können.
Ihre Idee, so viel steht fest, hat seither immer wieder Geschichte geschrieben. Vai, Corinthians!