Der Himmel über London hängt grau, also alles wie immer am letzten Donnerstag, als England und Wales mal wieder in Wembley aufeinandertreffen sollten. Aber auf dem Rasen ist gleich zu Beginn etwas anders als sonst: Kein Kind geht Hand in Hand mit den Spielern ins Innere des Nationalstadions. Stattdessen treten Männer und Frauen auf den Platz, vorsichtig, manche mit zögerndem Schritt, alle in Rot. Sie sind Fans der walisischen Nationalmannschaft – und sie leben mit Demenz.

Zweiundzwanzig von ihnen, Seite an Seite mit den Spielern, übernehmen sie an diesem Abend also den Platz der traditionellen Einlaufkinder. Und zwar auf Initiative der „Alzheimer’s Society“.

Einer von ihnen ist Chris Griffiths, seit er ein Kind war ist Chris Fan von Wales und Cardiff City. Er kommt trotz seiner Diagnose immer noch regelmäßig ins Stadion. „Der Fußball hat seit meiner Erkrankung eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt“, sagt er. Sein Leben war aber auch davor schon immer durchdrungen von diesem Sport – als Spieler in lokalen Ligen, als Schiedsrichter bei Jugend- und Erwachsenenspielen und als Sohn eines anderen leidenschaftlichen Fußballers. Chris‘ Vater spielte für Barry Town spielte und absolvierte sogar bei Arsenal London ein Probetraining.

Dann aber kam die Demenz-Diagnose. Ein Schock, erinnert sich Chris. „Total seltsam“, habe es sich angefühlt als der Arzt ihm davon berichtete. Unbegreifbar, einschüchternt, ausweglos. Doch dann kam die Hilfe, insbesondere von Betroffenennetzwerken und der Unterstützung seiner Familie berichtet der Waliser: „Die Menschen um mich herum waren großartig, alle – sogar die Kinder. Als ich mehr Leute mit Alzheimer kennenlernte, wurde es besser. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich wieder rausgehen und bestimmte Orte besuchen kann – das ist schön.“

Zusammen mit seinem Sohn und seinem Bruder besucht er weiterhin die Spiele von Wales und Cardiff City. Er ist auch Teil des 1927 Clubs der Cardiff City Foundation, einer Gemeinschaft für Menschen, die mit Demenz leben. Sein Sohn Lee Griffiths sagt: „Fußball war schon immer ein großer Teil seines Lebens, und ich glaube, er hilft dabei, alle zusammenzubringen und gibt ihnen etwas, worüber sie sprechen können.“ Ein vertrautes Umfeld, ritualisiert, emotional und doch sicher. Eine ziemlich wichtige Kombination für Menschen, besonders Männer mit Demenz.

Lee lächelt, als er über seinen Vater spricht. „Trotz der Diagnose ist er immer noch viel Spaß am Leben. Und wir sind wirklich dankbar für das Erlebnis, das er in Wembley haben durfte.“ Das Spiel verbrachten die 22 Einlauferwachsen dann nämlich auf den Tribünen von Wembley, begleitet von ihren Liebsten. Dort sahen sie erst einmal die erste Halbzeit.

Und nach der Pause sogar noch eine zweite Solidaritätsaktion: Denn dann kehren die walisischen Spieler ohne Namensaufschrift auf ihren Trikots auf das Feld zurück – ein stilles Symbol für Gedächtnisverlust, eines der häufigsten Symptome der Krankheit. Der Moment wirkte, ohne dass jemand ihn erklären musste.

„Indem wir gemeinsam mit Fans leben, die an Demenz erkrankt sind, senden wir eine klare Botschaft: Niemand sollte dieser Krankheit allein gegenüberstehen“, sagt darum auch Noel Mooney, Geschäftsführer des Fußballverbands von Wales. „Es braucht eine vereinte Mannschaft – auf und neben dem Platz –, um die Fürsorge, das Mitgefühl und das Verständnis aufzubringen, die nötig sind, um Betroffene zu unterstützen.“

Ein Thema, das in Zukunft immer wichtiger werden wird. Denn die Experten vom University College in London haben berechnet, dass die Zahl der Demenz-Patient*innen in Großbritannien bis 2040 noch einmal um 42 Prozent höher angesetzt werden muss, als bisher. Die Zahl der Demenzkranken in England und Wales könnte im Jahr 2040 demnach bei 1,7 Millionen liegen – und damit ungefähr doppelt so hoch wie noch vor zwei Jahren. „Dies würde nicht nur schwerwiegendere Folgen für die Erkrankten, sondern auch eine größere Bürde für das Gesundheitssystem bedeuten, als die bisherigen Schätzungen prognostiziert haben“, betont der Studienautor Yuntao Chen. Daher sei es wichtig, den aktuellen Trend genau zu beobachten, um sich rechtzeitig darauf einstellen zu können. Ein Grund für die stärkere Zunahme der Demenzfälle liegt laut der Studie darin, dass nicht nur die Gesellschaften insgesamt altern, sondern auch die Zahl der Demenzkranken innerhalb der älteren Bevölkerung zunimmt.

Übrigens: Alter, Geschlecht und Bildungsstatus haben auf eine mögliche Erkankung laut Chen und seinem Team keinen größeren Einfluss. Auch das ist also wie beim Fußball: Es geht uns alle an. Jede*n von uns.

Auch Alex Hyde-Smith, Marketingchef der Alzheimer’s Society, spricht darum von einem „historischen Abend, der unseren Maskottchen und ihren Familien einen besonderen Moment beschert hat“. Es gehe darum, zusammenzuhalten, sagt er, „um diese Krankheit gemeinsam zu bekämpfen“.

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Von admin