Manchmal schreibt der Fußball rund um einzelne Spiele ganz besondere Geschichten – absurd oder bewegend. Auf FanLeben.de rekonstruieren wir diese Geschichten und halten so die Erinnerung am Leben. Nachdem wir bislang über das Spiel Barbados und Grenada 1994, bei dem beide Mannschaft unbedingt ein Eigentor erzielen wollten, die Rückkehr von Erzgebirge Aue auf die internationale Bühne, über die tragische Geschichte der torreichste Begegnung aller Zeiten, über einen Schiedsrichter und seine Zahnprothese, über die WM 1954 berichtet haben, ein kurioses Qualifikationsspiel zwischen Madagaskar und Mauritius und ein Spie mit mehr als einem Ball berichtet haben, geht es heute um ein ziemlich überraschendes Tor. Los gehts!
Der Nachmittag des 8. Mai 1999 in Carlisle war der letzte Spieltag der damaligen Third Division, der vierten Liga des Landes, weil die Premier League zu dieser Zeit noch nicht mitgezählt wurde, heute heißt die Spielkasse übrigens League Two, weil auch die Championship als zweite Liga nicht mehr mitnummeriert wird, und Carlisle United stand sportlich am Abgrund: Nur ein Sieg würde den Verein in der Football League halten – jenem Verbund aus 92 Profiklubs, das in England fast schon als kulturelle Grundversorgung gilt.
Der Gegner hieß Plymouth Argyle, ein Klub aus dem gesicherten Mittelfeld der Tabelle. Für Plymouth ging es also um nichts. Aber der Blick auf die Tabelle spielte an diesem Tag ohnehin nur eine Nebenrolle. In Carlisle ging es nicht um Punkte, sondern um eine Existenz. Was niemand ahnen konnte: Die Rettung würde ausgerechnet von einem Mann kommen, der erst wenige Tage zuvor nachverpflichtet worden war.
Jimmy Glass, 25, Torwart, ausgeliehen für drei Spiele, weil Carlisle in Personalnot geraten war. Das war überhaupt nur durch eine Transfersonderregel in Engeland, die Kurzzeitleihen auch außerhalb der Transferfenster erlaubt, möglich. Ein Spieler, dessen Karriere über Jahre zwischen Ersatzbank und unteren Ligen pendelte. Und doch war es Glass, der an diesem Nachmittag im Brunton Park zur zentralen Figur, ja, sogar zum Spontan-Helden werden sollte.
Lange sah es nicht danach aus. Carlisle spielte nervös, Plymouth verwaltete das Ergebnis, und die Minuten verrannen. Als die reguläre Spielzeit verstrich und der Schiedsrichter die Nachspielzeit anzeigte, war der Abstieg beim Spielstand von 1:1 praktisch besiegelt. Dann kam die letzte Ecke. Es gibt im Fußball kaum ein Ritual, das so viele absurde Projektionen erlaubt wie eine Schlussminute-Ecke, bei der der Torwart mit nach vorn läuft. Auch wenn es in den allermeisten Fällen zu nichts führt. Und selbst Konter-Gegentore daraufhin häufiger sind als Tore des eigenen Torwarts. Glass sprintete aber natürlich trotzdem über den Platz, ein paar Tausend Menschen erhoben sich, fast automatisch.
Der Ball segelte in den Strafraum, wurde verlängert, prallte irgendwo ab – und landete dort, wo Glass stand. Der Torwart stoppte, schoss, traf. 2:1. Wenige Sekunden später stürmten die Fans den Platz, der Schiedsrichter pfiff ab, und Carlisle United war gerettet. Ein anderer Klub, Scarborough, stieg ab. Das ging gegen jede Wahrscheinlichkeit. Fußball eben.
Jimmy Glass spielte danach nie wieder ein Ligaspiel für Carlisle. Seine Kurzzeitleihe lief aus. Seine Karriere verlief weiter unspektakulär, auch wenn das Wort diesem Nachmittag kaum gerecht wird. In der Stadt Carlisle würde man dem Satz aber ohnehin auch wiedersprechen. Denn hier blieb sein Name natürlich haften. Sein Trikot aus diesem Spiel hängt heute sogar im Vereinsmuseum.
