Manchmal schreibt der Fußball rund um einzelne Spiele ganz besondere Geschichten – absurd oder bewegend. Auf FanLeben.de rekonstruieren wir diese Geschichten und halten so die Erinnerung am Leben. Nachdem wir bislang über das Spiel Barbados und Grenada 1994, bei dem beide Mannschaft unbedingt ein Eigentor erzielen wollten, die Rückkehr von Erzgebirge Aue auf die internationale Bühne, über die tragische Geschichte der torreichste Begegnung aller Zeiten und über einen Schiedsrichter und seine Zahnprothese berichtet haben, geht es heute um die WM 1954. Tatort: Bern. Im wahrsten Sinne des Wortes. Los gehts!
Wenn wir an Bern im Jahr 1954 denken, noch dazu an Bern während der Männer-Weltmeisterschaft 1954, dann denken wir – na klar – an das WM-Finale, das „Wunder von Bern“. Kein Wunder: Selbst Historiker*innen beschreiben den Siegtreffer von Helmut Rahn als einen Gründungsmoment der damals jungen Bundesrepublik. Aber dass dieses Spiel als Fußball-Wunder in die Geschichte eingegangen ist, zeigt ja schon: Ein Favoritensieg war es nicht. Als Tunierfavoriten galten bei der 54er Weltmeisterschaft andere – Uruguay, denn der Titelverteidiger trat mit einer eingespielten und erfahrenen Mannschaft an und wurde trotz höherem Altersdurchschnitt als Titelkandidat gehandelt. Brasilien, denn die Selecao hatte nach dem verlorenen WM-Finale 1950 ihren Kader verjüngt und brachte eine technisch brillante Mannschaft ins Turnier. Aber allen voran: Ungarn, denn „goldene Team“ um Ferenc Puskás, Sándor Kocsis und Nándor Hidegkuti hatte seit 1950 alle seine 32 Spiele verloren und reiste somit auch als amtierender Olympiasieger in die Schweiz. Kleiner Funfact: 1953 hatten sie als erste außerbrittische Mannschaft auch England in England besiegt. Als im Viertelfinale dann bereits Brasilien und Ungarn aufeinander trafen, sprachen nicht wenige von einem vorgezogenen Finale. So etwas gibt es natürlich nicht – das Spiel ging aber dennoch als eines der spektakulärsten WM-Spiele aller Zeiten in die Geschichte ein. Nur nicht unbedingt im positiven Sinne.
Schauen wir auf die Ausgangslage: Das Spiel von am 27. Juni im Stadion Wankdorf in Bern statt, also da, wo später auch das Finale ausgetragen werden sollte. Die brasilianische Mannschaft war für ihren attraktiven Angriffsfußball bekannt. In ihren beiden Gruppenspielen erzielte sie sechs Tore, wobei Mexiko mit 5:0 geschlagen und gegen Jugoslawien ein 1:1 nach Verlängerung erreicht wurde. Da die Tordifferenz bei diesem Turnier noch keine Beachtung für die Ermittlung des Tabellenplatzes fand, musste das Los entscheiden. Da „verlor“ Brasilien und wurde Gruppenzweiter. Deswegen wartete im Viertelfinale bereits Ungarn. Die Ungarn hatten, wie schon erwähnt, den Fußball im Nachkriegseuropa revolutioniert. In ihrer Gruppe setzte die Puskás-Elf ihr spektakuläres Spiel fort und erzielte d 17 Tore in zwei Spielen. Dabei wurden Südkorea mit 9:0 und Deutschland mit 8:3 geschlagen. Dag lag die Favoritenrolle eindeutig bei Ungarn. Noch ein Funfact: Mit durchschnittlich über 5 Toren pro Spiel ist die WM 1954 auch die bis heute torreiste Weltmeisterschaft aller Zeiten.
Die erste Halbzeit verlief dabei noch einigermaßen unspektakulär: Das Spiel wurde bei strömendem Regen angepfiffen. Der rutschige und aufgeweichte Boden erschwerte beiden Teams die Ballkontrolle. Schon in der 3. Minute brachte Nándor Hidegkuti Ungarn in Führung, Sándor Kocsis baute die Führung vier Minuten später auf 2:0 aus. In der 18. Minute entschied der Schiedsrichter auf Elfmeter für Brasilien. Djalma Santos verwandelte den Strafstoß und verkürzte auf 2:1. Damit ging es in die Kabine.
Doch nach dem Seitenwechsel verwandelte sich die Partie in ein hitziges Duell voller Härte und Tumulte. In der 60. Minute entschied Schiedsrichter erneut auf Elfmeter, dieses Mal für Ungarn – eine Entscheidung, die brasilianische Journalisten und Offizielle derart erzürnte, dass mehrere von ihnen den Platz stürmten. Erst der Einsatz der Polizei konnte sie wieder vom Spielfeld drängen. Mihály Lantos behielt vom Punkt die Nerven und erhöhte auf 3:1. Das Spiel wurde nun immer wieder von harten Fouls unterbrochen. Der brasilianische Angreifer Julinho gelang es trotzdem in der 65. Minute auf 3:2 zu verkürzen. Doch nur wenig später kam es zum nächsten Eklat: Nach einem Foul von Nilton Santos an József Bozsik gerieten beide aneinander und wurden jeweils mit Rot des Feldes verwiesen. In der 78. Minute streckte dann Humberto Tozzi Gyula Lóránt brutal zu Boden – auch Tozzi musste mit Rot vorzeitig unter die Dusche. Zwei Minuten vor dem Schlusspfiff kam dann noch ein sportlicher Höhepunkt: Sándor Kocsis erzielte das 4:2. Ingesamt pfiff der Schiedsrichter 42 Freistöße und zwei Elfmeter. Er sprach vier Verwarnungen aus und verwies drei Spieler des Feldes. WM-Rekord.
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt: Denn die Brasilianer fühlten sich ungerecht behandelt, obwohl unabhängige Kommentatoren den Schiedsrichter eine gute Leistung bescheinigten. Sie drangen trotzdem in die ungarische Kabine ein und begangen eine Massenschlägerei. Spieler, Offizielle und Betreuer beider Teams gerieten daraufhin in den Katakomben des Wankdorfstadions in Bern aneinander. Es flogen sogar Flaschen und andere Gegenstände. Selbst verletzte Spieler wie Ferenc Puskás, der das Spiel nicht bestritten hatte, sollen sich beteiligt haben. Die Auseinandersetzungen dauerten mehrere Minuten und mussten von Polizei und Ordnungskräften beendet werden.
Der ungarische Trainer Sebes sprach ebenfalls von einer Schlacht, einem brutalen und unzivilisierten Spiel. Sebes selbst erlitt bei den Handgreiflichkeiten nach dem Spiel eine Wunde im Gesicht, die mit vier Stichen genäht wurde. Davon unbeirrt gewann seine Mannschaft das anschließende Halbfinale gegen Österreich mit 4:2, bevor das Finale gegen Deutschland – wie erwähnt – überraschend und ebenfalls, wenn auch anders spektakulär mit 2:3 verloren ging. Der brasilianische Trainer Zezé Moreira wiederum äußerte sich nach dem brisanten Viertelfinalspiel gegen Ungarn enttäuscht und zuimindest auf sportlicher Ebene selbstkritisch: Er meinte, seine Mannschaft hätte dieses Spiel gewinnen müssen. Die ausgeschiedenen Brasilianer wurden dennoch bei ihrer Rückkehr als Helden gefeiert. Eine Zeitung forderte sogar Ehre für diejenigen, die zu kämpfen wissen.
Der Schiedsrichter, Arthur Ellis, verarbeitete das Spiel 1962 in seinen Memorien. Darin nannte er die Partie „entsetzlich“. Für ihn war es zudem überraschend, dass die FIFA keinerlei Sanktionen verhängte. Ellis war überzeugt, dass viele der Komitee-Mitglieder fürchteten, Reisen in schöne Gegenden absagen zu müssen.