Wenn die deutsche Frauenfußballnationalmannschaft heute in ihrem zweiten Gruppenspiel antritt, geht es für sie vor allem um eins: Das Weiterkommen. Nach dem Sieg im ersten Spiel hat es die Mannschaft von Bundestrainer Christian Wück dabei gegen Dänemark selbst in der Hand. Und das an einem historischen Fußballtag in Deutschland: Denn vor 35 Jahren wurden die DFB-Männer in Rom Weltmeister, vor 11 Jahren schlugen sie im Halbfinale der WM dann Brasilien mit 7:1.

Besonders im Fokus: Neu-Kapitänin Janina Minge, die in das Amt aufrückt, weil sich Giulia Gwinn im ersten Gruppenspiel verletzt hat. Für sie wird es das erst 23. Länderspiel – dass sie so früh so viel Verantwortung übernehmen darf, spricht für die 26-jährige ehemalige Offensivspielerin, die in der letzten Saison sowohl im Verein, sie kickt für den VfL Wolfsburg, als auch in der Nationalmannschaft zur Innenverteidigerin umgeschult wurde.

Doch während das deutsche Team, auch nach dem tragischen Ausfall von Kapitänin Giulia Gwinn, vor allem um den Titelkampf geht (eine erfrischende Abwechselung zu gerade laufenden Männertunieren, bei denen es, so scheint es, vor allem ums Geld geht – dazu gleich mehr), hoffen andere Mannschaften bei der Europameisterschaft vor allem auch auf Entwicklungen, die über das Turnier hinaus wirken. Denn die Frauen Europameisterschaften waren in den letzten Jahren immer wieder Booster für die Entwicklungen im Frauenfußball insgesamt.

In Island beispielsweise zeigte die EM 2013 – bei der Island das Halbfinale erreichte – eine deutliche Zunahme von Mädchen, die in den Fußballvereinen des Landes begannen. Die Verbände und Vereine reagierten darauf, indem sie verstärkt in Nachwuchsförderung und Trainer*innenausbildung investierten. Auch in Österreich stieg die Aufmerksamkeit nach dem überraschenden Viertelfinaleinzug bei der EM 2017 deutlich an. Das Team wurde über Nacht zu einem der bekanntesten der Nation, was zu einem verstärkten Interesse an weiblichem Fußball führte – sowohl auf Vereins- als auch auf Verbandsebene. Medien und Sponsoren begannen, sich stärker mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Doch auch allein die Vorbereitung auf das Turnier sorgt für positive Effekte: In Wales, wo Frauenfußball lange Zeit eine ziemliche Nische war, wurde der Aufstieg der Nationalmannschaft und die Teilnahme an der Qualifikation zur EM 2017 und 2021 von einer breiten gesellschaftlichen Diskussion begleitet. Frauenfußball wurde mehr in den Fokus gerückt, und auch der Verband musste sich stärker mit dem Thema befassen. Eine nachhaltige Veränderung in der Wahrnehmung von Frauen im Sport wurde damit angestoßen. In Irland hat die Aufmerksamkeit durch den Weg zur Qualifikation für große Turniere und das positive Abschneiden die Sponsorenakquise massiv verbessert. Zahlreiche lokale Marken und große Unternehmen begannen, den Frauenfußball als ernstzunehmende Plattform zu betrachten, was die Entwicklung von Infrastruktur und Talentförderung weiter unterstützte. Und Schottland, das in der EM-Qualifikation 2017 und 2021 gute Ergebnisse erzielte, wurde der Frauenfußball oft als Symbol für die gesellschaftliche Gleichstellung genutzt. Die Spielerinnen engagieren sich auch außerhalb des Feldes für die Gleichberechtigung und erhielten viel Medienaufmerksamkeit, was zu einer breiteren Diskussion über Frauen im Sport führte.

Besonders spannend sind die Entwicklungen auch in Ländern, in denen die Frauenteams den Männermannschaften voraus sind. Finnland zum Beispiel: Bei den Männern auf internationaler Bühne meist ohne Turnierteilnahme, bei den Frauen 2009 sogar EM-Gastgeberin. Hier hat der erste Erfolg auf internationaler Bühne, die Halbfinalteilnahme bei der EM 2005, dazu geführt, dass die Liga und auch die Nachwuchsförderung im Land gestärkt wurden. Der Verband hat mehr in die Ausbildung von Trainerinnen investiert, um so auch die langfristige Entwicklung des Frauenfußballs sicherzustellen. Und das sind nur einige Beispiele. Jeweils gilt: Potenziale wurden erkannt – und gehoben.

Für die Schweiz ist das Ausrichten der diesjährigen Europameisterschaft darum auch ein Meilenstein für den Frauenfußball. Und obwohl die sportlichen Ambitionen – Ziel ist das Erreichen des Viertelfinales – in diesen Wochen natürlich im Mittelpunkt stehen, sind es vor allem die gesellschaftlichen, strukturellen und langfristigen Erwartungen, die das Turnier für die Schweiz besonders bedeutsam machen. Durch die Präsenz des Turniers im ganzen Land sollen zum Beispiel mehr Mädchen für den Fußball gewonnen werden. Das wiederum soll die Vereine stärken. Aber auch im Hinblick auf Gleichstellung im Sport ist die Heim-EM ein Hebel, um die Diskrepanz zwischen Männer- und Frauenfußball sichtbar zu machen – und bestenfalls zu verringern. Hinzu kommen Investitionen in die sportliche Infrastruktur oder auch eine verbesserte Ansprache von Sponsoren, so dass in Summe Spitzen- und Breitensport jeweils profitieren sollen.

Es steckt also eine Menge Entwicklung im Frauenfußball. Die Strukturen werden professioneller, die Aufmerksamkeit größer und Verbände erkennen Nischen, die sie zu besetzen versuchen.

Spielerinnen und Fans merken das vor allem auch an der steigenden TV-Präsenz. DFB-Kapitänin Minge mahnte vor Jahren mehr Streamtime für sich und ihre Kolleginnen an: „Ich wünsche mir mehr mediale Präsenz für den Frauenfußball. Zum Beispiel in Form von Live‑Übertragungen oder zumindest Zusammenfassungen in Formaten wie der Sportschau oder dem aktuellen Sportstudio.“ Heute zeigen insbesondere ARD und ZDF nicht nur die Länderspiele, sondern auch die Topspiele von Bundesliga und DFB-Pokal live. Unverkennbar also eine positive Entwicklung.

Eine, die diese Anstrengungen bewusst begleitet und konstruktiv-kritisch kommentiert ist wiederum Minges Teamkollegin in der deutsche Frauennationalmannschaft Laura Freigang. Die erinnert sich auch an dunklere Zeiten: „Wir mussten uns in der Vergangenheit oft mit den Männern vergleichen, jetzt werden wir eigenständig wahrgenommen. Wir haben lange für diese Art der Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Noch vor ein paar Jahren wurden wir belächelt, wenn man sagte, spielt als Frau Fußball. Heute nicht mehr, heute stehen uns Türen offen.“ Auch wenn es bei den Frauen noch mehr um den Sport selbst geht: „Wenn ich zum Training gehe, weiß ich, die sind alle da, weil sie es unbedingt wollen und nicht, weil sie am Ende des Monats einen Ferrari davon kaufen können.“

Dabei findet Freigang explizit nicht, dass man jeden Trend mitmachen sollte – um mehr Geld im System geht es ihr zum Beispiel primär nicht: „Klar, es geht um Geld, aber ich finde, man sollte sich fragen: Leben wir ausschließlich kapitalistisch und fördern nur das, was maximalen finanziellen Erfolg bringt, oder geht es uns auch um die Gesellschaft?“ Der Frauenfußball sei offener, diverser und familiärer – und sollte sich genau das auch bewahren. „Ich finde das so schade, dass der Fußball wie so eine Burg verteidigt wird. Er ist ja eigentlich dazu da, dass alle mitmachen dürfen.“ Während in den großen Arenen der Männerbundesliga beispielsweise überall Rollstuhl-Plätze fehlen, kann der Bedarf an Behindertenplätzen in der Frauen-Bundesliga durch niedrigschwelligere Infrastruktur gut bedient werden. Auch ist die Verbindung zu den aktiven Fans bei den Frauen oft noch enger, ehrlicherweise weil es weniger sind. Darum sieht Angreiferin Freigang sich und ihre Kolleginnen auch in einer besonderer Verantwortung: „Wenn ich auf einen öffentlichen Fußballplatz komme, sagen mir kleine Mädchen, dass sie verfolgen, was ich mache. Das ist so toll, wie leicht ich Freude verbreiten kann! Ich hoffe, dass wir mit dem, was wir tun, den Weg ebnen für die nächste Generation, so wie es die Generation vor uns auch getan hat.“

Neu-Kapitänin Minge sieht das allerdings – zumindest in Nuancen – anders. Ihre Forderungen beginnen nämlich bei einer fairen Bezahlung für alle Spielerinnen, auch wenn sie selbst bis zu ihrem Wechsel nach Wolfsburg nebenher als Polizistin gearbeitet hat und auch plant, nach der Profikarriere in den Polizeidienst zurückzukehren: „Wir sollten ab der zweiten Liga so gut verdienen, dass niemand mehr nebenbei arbeiten muss.“ In Diskussionen wird häufig ein Monatsgehalt von 2 000–3 000 € als realistisch genannt. Im US-Frauenfußball gilt sogar bereits eine Equal-Pay-Regelung. Frauentrainerin Emma Hayes verdient darum rund 2 Millionen im Jahr – genauso viel wie Männecoach Gregg Berhalter. Eine bewusste Entscheidung, die in Deutschland jedoch weitreichende Folgen hätte: Die Konsequenz wäre, dass sich der Frauenfußball auch kapitalisieren müsste, über das, was allgemeiner Konsens ist, also, was alle EM-Teams auch mit ihrer Turnierteilnahme in Sachen Aufmerksamkeit, Netzwerkarbeit und Nachwuchsgewinnung anstreben, hinaus. Manches würde dabei eben auf der Strecke bleiben.

Doch gerade das im Frauenfußball die Diskussionen über nächste Entwicklungsschritte so offen und kontrovers geführt werden können, ist doch ziemlich spannend. Einig sind sich dabei alle, von Janina Minge und Laura Freigang bis zu den Funktionär*innen der Verbände, dass die Diskrepanz zwischen Männer- und Frauenfußball endlich beziehungsweise immer weiter kleiner werden muss. Strukturell, aber auch finanziell. Beispiel gefällig? Gerne: Bei der Klub WM der Männer sind der FC Bayern und Borussia Dortmund gerade im Viertelfinale ausgeschieden – und haben trotzdem jeweils über 50 Millionen Euro an Prämien verdient.

Um die Summen geht es beim zweiten Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft gleich bzw. im gesamten Turnierverlauf nämlich nicht – dafür ist die gesellschaftliche Bedeutung der EM eine wesentlich größere. Alle Akteur(*)innen können, das zeigen auch die Beispiele aus diesem Text, zusammen mehr bewegen. Das macht den Frauenfußball aus – und ihn zu begleiten gerade auch zu etwas ganz Besonderem. Was es, auch da sind sich alle einig, gleichzeitig zu bewahren gilt. Wohin er sich dabei entwickelt? Anders als bei den Männern, wo manche Trends längst unumkehrbar sind, liegt das noch in unserer Hand.

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Von admin