Hermann Gerland hört auf.

Mit 71 Jahren geht der wohl erfolgreichste Co-Trainer der Fußballgeschichte in Rente. Mit der Silbermedaille bei der U21-Europameisterschaft, die er gerade an der Seite von Nationaltrainer Antonio di Salvo gewonnen hat, ist also Schluss.

Und das ist verdammt schade, weil der Fußball es sich eigentlich nicht leisten kann, noch mehr Protagonisten zu verlieren, die für Ehrlichkeit, Leidenschaft und die bedingungslose Liebe zum Spiel stehen. Beispiel gefällig? Hier ein Gerland-Zitat, das allen Fußball-Fans die Herzen höher schlagen lässt: „Niederlagen machen mich fertig. Dann sitze ich im Bus, gleich hinter dem Fahrer, und rede kein Wort. Ich kann nicht begreifen, dass die Spieler lachen und flachsen. Die Fans weinen, die Spieler lachen – das will in meinen Kopf nicht rein. Zu Hause angekommen starre ich gegen die weiße Wand. Ich kann nicht mehr einschlafen und wache nachts schweißgebadet auf.“

Spöttisch könnte man jetzt sagen: Gut, dass der Mann irgendwann zum FC Bayern gekommen ist.

Aber wir überlassen die Würdigung zum Karriereende lieber einem Weggefährten: „Hermann Gerland ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ein herausragender Trainer – in vielerlei Hinsicht. Wenn es darum geht, Talent zu erkennen, kann ihm niemand das Wasser reichen.“ Mit diesen Worten würdigt nämlich Hansi Flick, der, mit Gerland als Co-Trainer, immerhin die erfolgreichste Saison in der Geschichte des FC Bayern verantwortete: Meisterschaft, DFB-Pokal, DFL-Supercup, Champions League und Klub WM – es gab keinen Titel, den die Bayern 2020 nicht gewinnen konnte.

Den Erfolg hart erarbeitet

Auch ein Verdienst von Gerland – wie Flick jetzt zu dessen Karriereende betont: „Hermann war brutal ehrlich, offen und direkt – nicht nur zu den Spielern, sondern auch zu mir als Cheftrainer. Hierarchien bedeuteten ihm wenig, große Namen noch weniger. Es ging ihm immer und ausschließlich um die Sache – das Spiel, die Mannschaft und den Erfolg.“

Doch nicht nur während der genannten Spielzeit leistete Hermann Gerland, laut Hansi Flick, seinen Beitrag zu großen Titeln – mindestens genauso wichtig sei seine Vorfeldarbeit gewesen: „Einzigartig ist seine Fähigkeit, junge Spieler nicht nur zu entdecken, sondern sie auch energisch zu fördern und nachhaltig zu entwickeln.“ Spieler wie Thomas Müller, Philipp Lahm oder Mats Hummels wurden von ihm entdeckt, Stars wie David Alaba oder Bastian Schweinsteiger entscheidend von ihm gefördert. „Der liebe Gott hat mir ein Auge dafür gegeben. Ich kann übrigens auch für meine Frau einkaufen gehen und hinterher bekommt sie Komplimente dafür.“ Auch eine Form von Work-Life-Balance. 

Dabei sah Gerland Talent, das anderen verborgen blieb. Dabei meinen wir nicht seine Frau, sondern zum Beispiel Thomas Müller: „Ich hab ihn gesehen und wusste: Der hat was Besonderes. Vielleicht nicht die beste Technik, aber ein außergewöhnliches Gespür für Räume.“ Kein Wunder, dass auch Müller selbst, voll das Lobes über seinen Entdecker ist: „Hermann war der erste, der an mich geglaubt hat. Ohne ihn hätte ich es nie so weit geschafft.“

Wie der Tiger zu seinem Namen kam 

Dessen Arbeit beschreibt Müller wie folgt: „Er war streng, aber immer ehrlich. Wenn du Gas gegeben hast, hat er dich beschützt wie ein Löwe.“ Oder wie ein Tiger, denn diesen Spitznamen bekam Hermann Gerland schon lange bevor sich Stefan Effenberg ein Tiger-Muster in die Haare färben ließ. Der Spitzname „Tiger“ für Hermann Gerland stammt nämlich aus seiner aktiven Spielerzeit beim VfL Bochum – und hat sich seither wie ein Markenzeichen durch seine gesamte Karriere gezogen. Der Name wurde ihm von einem Bochumer Journalisten wegen seiner kompromisslosen, kämpferischen Spielweise verliehen, vorher hatten Fans und Mannschaftskollegen ihn aus dem selben Grund „Eiche“ genannt. Denn als Verteidiger war er bekannt für seine Härte, Zweikampfstärke und seinen unbedingten Einsatzwillen. Oder, wie Hermann Gerland selber sagt: „Ich war nie der Filigrantechniker, aber ich habe alles rausgehauen, was ging.“

Warum Gerland seine Karriere im DFB-Nachwuchs beenden wollte

Ein Ziel hat er auch deswegen verpasst: Selber für Deutschland zu spielen. Auch deswegen stand sein Entschluss fest, als es 2021 für ihn nicht mehr beim FC Bayern weiterging: „Ich habe früher als Spieler alles gegeben, aber ich war zu schlecht, um für Deutschland zu spielen. Und jetzt dazustehen und die Nationalhymne zu singen, das war für mich ein Traum. Es hat mir großen Spaß gemacht, und die Jungs waren super.“ Konkret war er die letzten Jahre Co-Trainer der U21-Nationalmannschaft und Scout für das A-Team von Julian Nagelsmann.

Hermann Gerland lehnte in seiner Karriere darum auch, von einigen kurzen Intermezzos abgesehen, mehrfach Angebote als Cheftrainer in der Bundesliga ab – ganz bewusst. Ihm ging es nie um Titel, Prestige oder Macht, sondern immer um die tägliche Arbeit mit den Spielern. Seine Haltung dazu bringt er selbst auf den Punkt: „Ich bin kein Träumer, ich wollte nie Cheftrainer in der Bundesliga sein – ich wollte einfach nur auf dem Platz stehen und Fußball arbeiten.“ Dazu passt auch diese Anekdote: Den eigenen Trainerschein hat Hermann Gerland sehr spät gemacht – nach vielen Jahren im Job, nebenbei. Der klügste Trainer war der Anti-Professor. Auch das ist aller Ehren wert.

Eine ehrliche Haut

Trotzdem: Glücklich über das Ende seiner Zeit beim FC Bayern war er nicht. 2013, als Pep Guardiola Trainer des FC Bayern wurde, musste Gerland zum ersten Mal aus dem Trainerstab weichen, wurde Nachwuchsleiter am Campus an der Säbener Straße. 2017, nach der Entlassung von Pep Guardiola, kehrte er dann in den Trainerstab zurück, musste aber 2021, als Julian Nagelsmann Trainer der Bayern wurde, wieder gehen weichen, weil Nagelsmann keinen Platz für Gerland in seinem Staff hatte. Das kränkte den Altmeister, weswegen er eine neue Herausforderung suchte und zum DFB wechselte. Praktisch, dass er sich damit immerhin noch einen Traum erfüllen konnte.

Gerland ist eben offen und direkt, macht keine halben Sachen. Auch das zieht sich durch sein Leben: In Weitmar, wo er bei Weitmar 09 als kleiner Junge das Fußballspielen begann, betrieb Gerland noch während seiner Trainerlaufbahn lange ein Sportartikelgeschäft. Weitmar 09 bestellte bei Gerland seine Trikots und schmückte sich gerne mit dem berühmtesten Sohn des Vereins. Gerland kam auch immer wieder mal vorbei, half, in der örtlichen Wirtschaft Klinken zu putzen, zumindest bis Weitmar 09 entschied, die Trikots woanders, wohl etwas günstiger einzukaufen. Das nahm Gerland seinem Jugendklub übel und der Kontakt fror ein. Wenn man nicht mit ihm arbeiten wolle, wolle man eben nicht mit ihm arbeiten, war Gerlands eindeutige Haltung. Aber als der Verein sich Jahre später wieder vorsichtig an ihn wandte und freundlich fragte, ob man seinen Namen in einer Infobroschüre für Kinder verwenden dürfe, sagte er sofort wieder zu. Weil er eben stolz ist auf seinen Weg und eine ehrliche Leidenschaft dafür hat, Kinder für „seinen“ Sport zu begeistern.

Heimatverbunden

Apropos Weitmar: Herman Gerland ist offensichtlich ein Kind des Ruhrgebiets. Jupp Heynkes, mit dem Gerland 2013 die Champions League mit den Bayern gewann, berichtete einmal von der Nacht nach dem Halbfinalsieg. Heynkes, damals Ende 60, hatte sich auf einen ruhigen Abend im Hotel gefreut. Mit Gerland im Team hatte er darauf aber keine Chance: „Der hat gefragt, in welche Kneipe wir jetzt gehen“, erinnerte sich Heynkes später. „Und das ganze Trainerteam musste mit.“

Allerdings überrascht Gerlands Getränkewahl nach Siegen dann doch – zumindest wenn man ans klassische Ruhrgebiets-Bier denkt: „Wenn wir ein sehr gutes Spiel gemacht haben, fahre ich nach Hause und trinke kein Pils, dann trinke ich einen schönen Whiskey-Cola.“ In den VIP-Loungen von Bayern und Bochum bekommt man die heute sogar, wenn man einen Gerland-Drink bestellt – gelebte Fanfreundschaft.

Und auch für die Rente hat Tiger Gerland keine Ruhe vorgesehen. Stattdessen Jugendarbeit: „Ich freue mich, jetzt mehr Zeit für meine Frau und meine Enkelkinder zu haben, die sollen von ihrem Opa noch was haben. In diesem Sinne: Glück auf!“ 

Einen schöneren Abschluss kann es doch gar nicht geben, Tiger. In diesem Sinne: Glück auf!

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Von admin