Seit 2012 kennt der schottische Fußball im Prinzip nur noch einen Meister: Celtic Glasgow. Nur 2021 musste sich Celtic den Glasgow Rangers geschlagen geben. Davor hatten 2009 und 2011 drei Mal in Folge die Rangers den Titel gewonnen. Insgesamt wechseln sich die beiden Hauptstadt-Klubs seit 1986 als Titelträger ab, beide sind mit jeweils unglaublichen 55 Meisterschaften Rekordchampion des Landes. Seit fast 40 Jahren ist sogar überhaupt keine andere Mannschaft mehr Meister geworden – zuletzt 1985 der FC Aberdeen.
Doch ausgerechnet jetzt, im 40. Jahr der Glasgow-Serie, droht die Strähne zu reißen. Es sind zwar erst zehn von 38 Spieltagen absolviert, aber an der Spitze hat eine Mannschaft, die nicht aus Glasgow kommt, schon sechs Punkte Vorsprung. Heart of Midlothian hat 26 Punkte auf dem Konto. Es folgt Celtic, die Rangers, mit ihrem deutschen Neu-Trainer Danny Röhl, liegen mit nur 15 Punkten abgeschlagen auf Rang drei. Zuletzt gewannen die Hearts am Sonntag – und zwar gegen Verfolger Celtic Glasgow. Die Leistung seiner Mannschaft am Sonntag war mehr als titelreif, trotzdem bemühte sich Trainer Derek McInnes sich im Anschluss, die Titelträume noch etwas herunterzuspielen. „Wir sind derzeit gut unterwegs, aber es sind nur drei Punkte. Es ist wichtig für uns, weiter zu gewinnen, und ich bin froh, dass uns das gelungen ist. Wir haben noch viel zu tun, sehr viel sogar.“
Trotzdem: Heart of Midlothian ist auf einem verdammt guten Weg. Und das ist aus zwei Gründen besonders spannend: Zum einen steht bei den Hearts mit Alexander Schowlow ein deutscher Schlussmann im Tor – und überzeugt: In fünf Startelf-Einsätzen kassierte der Ex-Spieler von Schalke, Hertha und Union Berlin nur ein Gegentor, beim jüngsten Heimsieg gegen Celtic. Und dann ist da noch die besondere Eigentümerstruktur beim Team aus Edinburgh. Denn der Verein gehört, anders als Celtic, die Rangers und fast alle anderen Profiteams im britischen Fußball, mehrheitlich seinen Fans.
Und das kam so: Im Jahr 2005 übernimmt der litauische Unternehmer Wladimir Romanow den Traditionsverein. Der exzentrische Banker, der über sein Firmenkonglomerat Ūkio Bankas Investment Group (UBIG) Millionen in Hearts stecken wollte, versprach Großes: Titel, Stars, europäische Nächte. Tatsächlich ging es gut los und der Klub gewann schon 2006 den schottischen Pokal und spielt damit europäisch. Doch schon bald begann der Glanz zu bröckeln. Romanow mischt sich in Mannschaftsaufstellungen ein, feuert Trainer in Serie, und hinter den Kulissen wuchs ein immenser Schuldenberg. Als 2013 seine Bank in Litauen kollabierte, stürzt auch Hearts ins finanzielle Chaos. Die Insolvenz war unausweichlich, 25 Millionen Pfund Schulden lasten auf dem Verein, die Existenz steht auf dem Spiel.
Die Fans hatten die Gefahr rasch erkannt und schon 2010 damit begonnen, eine Alternative zu Romanow zu organisieren. Sie gründeten die Foundation of Hearts, mit dem Ziel eine demokratisch-konstituierte Institution zu schaffen, die perspektivisch die Verantwortung für ihren Herzensklub übernehmen könnte. Mit der Insolvenz wurde aus dem Idealismus dann Ernst. Tausende Unterstützer*innen schlossen sich der Foundation an, verpflichten sich, monatlich Geld beizusteuern – 10, 20, 30 Pfund, die Mitgliedsbeiträge variieren solidarisch je nach Einkommen. Über die Jahre kamen so Millionen zusammen.
Aber aus eigener Kraft hätte das Fan-Engagement dennoch nicht ausgereicht, um die Hearts als Profifußballverein übernehmen zu können. 2014 trat dann jedoch eine Frau auf den Plan, die in Edinburgh seither als Retterin gilt: Ann Budge, eine erfolgreiche IT-Unternehmerin und langjährige Hearts-Anhängerin. Sie kauft den Verein über ihre Firma Bidco (1874) Ltd. aus der Insolvenzmasse und bringt ihn sportlich wie organisatorisch wieder in ruhigeres Fahrwasser. Doch Budge tritt mit einem Versprechen an: Dem Versprechen, den Verein perspektivisch in die demokratische Kontrolle seiner Fans zu bringen. Also die Foundation of Hearts zur neuen Eigentümerin zu machen. Gemeinsam mit der Foundation wird ein Plan geschmiedet: Budge finanziert den Neustart, die Fans zahlen ihr Investment über Jahre zurück.
Die Jahre danach sind geprägt von Wiederaufbau. Die Hearts, zwischenzeitlich in die zweite Liga abgestiegen, kehren in die Premiership zurück, das Stadion Tynecastle wird modernisiert und auch die Foundation wächst weiter: Mehr als 8.000 Mitglieder zahlen regelmäßig Beiträge und bereiten so die Übernahme vor. Budge bindet die Fans auch in dieser Zeit schon eng ein, bereitet die Übergabe des Vereins damit systematisch vor, schafft Kontinuität. Und im Sommer 2021 ist es dann auch offiziell so weit: Die Rückzahlung ist abgeschlossen, Budge überträgt 75,1 Prozent der Anteile an die Foundation of Hearts. Damit wird Hearts offiziell zum größten Fan-geführten Verein im Vereinigten Königreich. Budge behält einen symbolischen Minderheitsanteil und engagiert sich bis heute symbolisch als Präsidentin des Vereins, kündigte jedoch, inzwischen 77 Jahre alt, für die Mitgliederversammlung im Dezember ihren Rücktritt an. Auch Mitglied der Foundation ist Anne Budge.
Die Foundation organisiert dabei bis heute Fanbefragungen und wählt den Vorstand. Sie unterstützt aber auch die Gemeindearbeit und engagiert sich für benachteiligte soziale Gruppen. Der Verein gehört damit buchstäblich der Stadt – oder genauer: den Menschen, die jede Woche im Tynecastle auf der Tribüne stehen.
Dieser Weg macht die Vielleicht-Bald-Meisterschaft von Heart of Midlothian zu einer der sympathischsten Geschichten im modernen Fußball. Es zeigt: Externe Investoren sind keine Voraussetzungen für den Erfolg. Im Gegenteil: Selbst im Wettbewerb mit ihnen können sich Fan-geführte Klubs durchsetzen, wenn sie seriös und nachhaltig arbeiten.
Und genau das tun sie in der schottischen Hauptstadt. Auch durch eine strategische Entscheidung, die sie in diesem Jahr getroffen haben: Sie holten Tony Bloom, den Besitzer des englischen Vereins Brighton and Holve Albion, wo übrigens der deutsche Trainer Fabian Hürzeler an der Seitenlinie steht, als strategischen Investor ins Boot. Bloom investierte 11,5 Millionen Euro und übernahm dafür 29% der Anteile an den Hearts, allerdings sogenannte „non-voting shares“, er hat also keinerlei Stimmrechte, würde jedoch bei großen wirtschaftlichen Erfolg von einer Dividende profitieren. Bloom, als Pokerspieler aber ohnehin schon ziemlich reich geworden, engagiert sich seit vielen Jahren im Fußball. Neben Brighton ist er auch Besitzer des belgischen Vereins Royale Union Saint-Gilloise, den er zurück in die erste Liga und zur ersten Meisterschaft seit 90 Jahren führte. Sein Geheimnis: Bloom perfektionierte das Datenscouting, ist Mitbegründer von „Jamestown Analytics“ , einen Ableger der Datenanalysefirma „Starlizard“. Mit „Jamestown Analytics“ entdeckte Bloom unter anderem Deniz Undav, den er vom SV Meppen aus der Regionalliga erst nach Belgien und dann nach England holte – inzwischen ist Undav deutscher Nationalspieler.
Als Tony Bloom Anfang des Jahres in die Hearts investierte, erklärte er, dass er das in Schottland „seit viel zu langer Zeit bestehende Dominanzmuster durchbrechen“ wolle. Während schottische Spitzenklubs normalerweise auf Transfers von anderen schottischen Teams setzen oder sich auf Leihgaben aus England verlassen, kamen neun der zehn Sommertransfers der Hearts aus Ländern außerhalb des Vereinigten Königreichs – zum Beispiel wie Cláudio Braga und Christian Borchgrevink aus Norwegen, dazu kam Alexandros Kyziridis aus Serbien und Rekordtransfer Ageu vom portugiesischen Verein Santa Clara, zudem eben Keeper Schwolow aus Berlin. Und die Transfers schlugen ein: Insgesamt haben die Neuzugänge von McInnes‘ Team nämlich in den ersten neun Ligaspielen elf Treffer beigesteuert.
Ganz unwahrscheinlich ist es darum nicht, dass Heart of Midlothian im kommenden Sommer im Tynecastle in Edinburgh die Meisterschaft feiern kann – es wäre, wie gesagt, die erste Meisterparty nach 40 Jahren, die außerhalb Glasgows stattfinden würde. Ein Ausrufezeichen wäre sie aber vor allem deswegen, weil sie beweist, dass erfolgreicher Fußball auch unter der Kontrolle von Fans gelingen kann, selbst gegen eigentlich schier übermächtige Rivalen.
