Ist Sebastian Kehl als Sportdirektor von Borussia Dortmund eine Fehlbesetzung?

Geht es nach vielen BVB-Fans, die regelmäßig auf Twitter oder Instagram, bei transfermarkt.de oder in den Online-Abstimmungen von Sky, Dazn und Kicker ihre Meinung äußern: Ein klares Ja.

Die Meinung dieser Anhänger*innen ist dabei schon seit Jahren gefestigt. Es begann mit Edson Álvarez, den der BVB hätte verpflichten können, es aber nicht tat, weil der damalige Cheftrainer, Edin Terzic, unbedingt auf Emre Can setzen wollte, ihn sogar zum Kapitän machte. Statt Álvarez von Ajax Amsterdam zu verpflichten, sah man zu, wie er zu West Ham United wechselte – mittlerweile ist er an Fenerbace Istanbul in die Türkei ausgeliehen. Kehl, so der Vorwurf, hätte sich gegen Terzic durchsetzen müssen. Dann, so die Fortsetzung, hätte der teure Vertrag mit Can auch nicht verlängert werden müssen. Ein weiterer Vorwurf: Sebastian Kehl ließ zwei Mal die Möglichkeit verstreichen, Ryan Cherki von Olympique Lyon zu verpflichten. Statt in Dortmund spielt Cherki jetzt bei Manchester City. Außerdem geriet Kehl, so hört man, immer wieder mit Sven Mislintat, der ihm zwischenzeitlich als Kaderplaner unterstellt wurde, aneinander. Die Zusammenarbeit scheiterte, Mislintat, der als Erfinder des modernen Datenscoutings gilt, aber den Anschluss an die Weltspitze längst verloren zu haben scheint, musste den Verein verlassen. Drumherum lief es sportlich ab und an holpriger – aber auch das stimmt, in Anbetracht der Fast-Meisterschaft und dem Champions-League-Finale, nur teilweise.

Werfen wir einen Blick auf diesen Sommer.

Der BVB hat, auch von Kehl verpflichtet, einige sehr gut bezahlte Spieler unter Vertrag, die sportlich kaum mehr eine Rolle spielen, beziehungsweise deren sportlicher Wert nicht mit ihren exorbitanten Gehältern in Einklang zu bringen ist. Da war der unglückliche Sebastien Haller, dessen BVB-Zeit von seiner Krebserkrankung überschattet wurde, da war Salih Özcan, dessen Pressing-Qualitäten beim BVB schlichtweg nicht gefragt sind und da waren Niklas Süle und eben Emre Can, die sich unter Kovac zwar beide stabilisiert haben, aber weit unter den in sie gesetzten Erwartungen zurückblieben. Nur Haller konnte der BVB abgeben – zahlte dafür aber wohl eine Abfindung in Höhe von fünf Millionen Euro an den Spieler. Bei Özcan gibt es Gerüchte, dass es noch mit einem Wechsel klappen könnte, mehrere Klubs aus Istanbul sollen interessiert sein und das Transferfenster in der Türkei ist noch zwei Wochen geöffnet. Sicher bleiben werden hingegen Süle und Can. Beide sind Topverdiener, beide im letzten Vertragsjahr, beide haben sich, wie erwähnt, unter Kovac stabilisert. Da wirkt es sinnvoller, sie noch ein Jahr dabei zu haben, als auch ihnen, wie Haller, horrende Abfindungen zu zahlen. Gelingt es Kehl, Özcan, der im zentralen Mittelfeld bei der immensen Konkurrenz auch dieses Jahr keine Rolle spielen wird, noch zu verkaufen und dabei eine Ablöse zu erzielen, hätte er die komplizierte Abgabeseite beim BVB damit gut bearbeitet. Auch der Jamie Gittens-Transfer zu Chelsea war sinnvoll. Trainer Nico Kovac setzt nicht auf klassische Flügelspieler. Das ist Fakt. Gittens, das hat der Spieler immer wieder klar gemacht, wollte unbedingt zurück nach England. Klar hätte der BVB ihn noch ein Jahr halten können, es wäre aber vermutlich ein Jahr geworden, in dem sein – aufgrund seiner Verletzungsgeschichte ohnehin schon wackeliger – Marktwert weiter gefallen wäre.

Und was ist auf der Zugangsseite? Kovac, das hat sich spätestens bei der Klub WM als favorisiertes System herausgestellt, spielt gerne mit zwei Stürmern: Serhou Guirassy als Ankerspieler, der Bälle festmachen und dabei aus allen Positionen gefährlich zum Abschluss kommen kann, der aber auch beim Spielaufbau in der Tiefe unterstützt oder Flanken verwandelt. Und daneben entweder Karim Adeyemi oder Maximilian Beier, die mit Tiefenläufen Räume öffnen, das Spiel schnell machen können und so als Raumöffner für Guirassy, als Vorlagengeber oder als Anspielstation für ihn, wenn er den Spielaufbau aus der Tiefe unterstützt, dienen. Dabei gibt Guirassy stets die Abläufe vor – und sowohl Adeyemi als auch Beier passen sich daran an. Im Angriff gehört Borussia Dortmund damit schon mit diesen drei Spielern ohne Frage zu den stärksten Teams der Liga. Aber sowohl Guirassy als auch Adeyemi haben immer wieder mit Blessuren zu kämpfen. Spätestens nach dem Haller-Abgang musste Kehl darum einen vierten Stürmer verpflichten. Und er entscheid sich für Andre Silva, den er für 25 Millionen Euro aus Wolverhampton holte. Silva, wie Adeyemi und Beier erst 23 Jahre alt, ähnelt eher Guirassy als Beier oder Adeyemi, kann aber auch deren Rolle ausfüllen, seit er während einer Leihe zu Celtic Glasgow ein Jahr lang als Flügelspieler eingesetzt wurde. Das habe ihn „zum kompletteren Spieler“ gemacht, sagt er selbst. Und das macht Silva, zumindest auf dem Papier, zur idealen Besetzung für die vierte Planstelle im BVB-Angriff unter Nico Kovac.

Wechseln wir ins Mittelfeld. Hier spielt Kovac mit zwei zentralen und meist einem offensiven Mittelfeldspieler, der bei Bedarf gemeinsam mit der hängenden Spitze, also Adeyemi oder Beier, auch die offensiven Außenbahnen besetzt. Für letztere Position hat Sebastian Kehl Carney Chukuwumeka, der während der vergangenen Rückrunde und der Klub WM bereits ausgeliehen war, nun doch noch fest verpflichtet. Außerdem spielt Julian Brandt auf dieser Position. Auch Brandts Form schwankt immer wieder, auch sein gut dotierter Vertrag läuft aus. Cherki für Brandt wäre darum sicherlich ein Update gewesen. Realistisch aber war es nicht. Zumal Nico Kovac Julia Brandt sehr schätzt, ihn auch als zweiten Kapitän bestätigt hat. Für die defensivere Position im zentralen Mittelfeld stehen Kovac Pascal Groß und Marcel Sabitzer zur Verfügung, zwei erfahrene Spieler. Groß ist ohne jeden Zweifel prädestiniert für diese Position. Er sichert den etwas offensiveren Spieler neben sich ab, läuft Räume zu und spielt im Aufbauspiel kontrollierende Bälle. Auch Sabitzer, der in den letzten Jahren an Tempo verloren hat, passt, weil er über den Kampf kommt, gut auf diese Position. Für diese Saison ist der BVB auf dieser Position darum gut aufgestellt, spätestens im nächsten Sommer, wenn beide noch ein Jahr älter sind, wird Kehl hier aber nachlegen müssen – oder auf das aktuell an den VfL Bochum verliehene Dortmunder Talent Kjell Wätjen setzen müssen. Neben Groß oder Sabitzer spielt entweder Felix Nmecha, der ohne Zweifel problemlos auf Champions-League-Nievau agieren kann, oder Jobe Bellingham, den Kehl für 35 Millionen Euro vom AFC Sunderland verpflichtet hat. Bellingahm, das sieht man, ist hoch veranlagt, nicht ganz so sehr wie sein Bruder, aber wird für diese Position sicher eine Bereicherung sein, sobald er sich an die Bundesliga gewöhnt hat. Was auffällt: Kovac gibt ihm viel Zeit, sich zu entwickeln. Hier hat sich damit auch der Trainer, der bislang nicht als Talententwickler galt, weiterentwickelt. Perspektivisch wird Dortmund mit Nmecha und Bellingham übermäßig gut auf dieser Position aufgestellt sein, was auch notwendig ist, weil zumindest Nmecha als extrem verletzungsanfällig gilt. Auch auf dieser Position war der Transfersommer des BVB darum erfolgreich.

Schauen wir auf die Flügel-Positionen. Auf der rechten Seite hat der BVB mit Yan Couto einen Spieler, der eigentlich ideal zum Kovac-System passt. Er ist technisch versiert, läuft viel, bearbeitet, wie erforderlich, die gesamte Seite. Dennoch scheint Couto immer noch nicht ganz in der Bundesliga angekommen, macht zu viele Fehler. Gegen Union Berlin machte er sein bislang bestes Spiel in schwarz-gelb. Kovac muss ihn zwingend weiterentwickeln, sonst wird Couto, der auch über 20 Millionen Euro gekostet hat, als Fehleinkauf in Kehls Akte eingehen. Links hat Borussia Dortmund Daniel Svensson. Svensson, ein BVB-Transfer wie in der Zorc-Zeit, in der dänischen Liga entdeckt und sofort an die Bundesliga gewöhnt, wäre in einer klassischen Viererkette wohl etwas besser aufgehoben. Gleiches gilt für Julian Ryerson, der aber immerhin auf beiden Flügelseiten spielen kann und damit erster Back-up für Couto und Svensson ist. Unklar ist, ob Nico Kovac auch Julian Duranville, ein Ausnahmetalent, aber eigentlich wie Jamie Gittens Außenstürmer, auf dieser Position sieht. Wenn nicht fehlt dem BVB ein vierter Flügelspieler, hier hat Sebastian Kehl es eindeutig versäumt, für die notwendige Breite im Kader zu sorgen.

Womit wir in der Abwehr angekommen sind. Der Problemposition beim BVB. Zumindest noch. Denn aktuell hat Borussia Dortmund mit Ramy Bensebaini, Waldemar Anton und Aaron Anselimo, den Kehl für ein Jahr ohne Kaufoption von Chelsea ausgeliehen hat, nur drei potenzielle Stammspieler im Aufgebot. Sobald Nico Schlotterbeck nächsten Monat zurückkehrt, werden es vier sein. Mit Emre Can und Niklas Süle sind dann, ebenfalls ab nächstes Monat, auch die Kaderstellen fünf und sechs besetzt. Anselimo hat gegen Union Berlin, in seinem ersten BVB-Spiel, bereits gezeigt, dass er auch dann ein potenzieller Stammspieler sein wird. Wenn Sebastian Kehl es schafft, ihn fest zu verpflichten, wäre das ziemlich genial, gerade weil Can und Süle den BVB im nächsten Sommer wohl verlassen werden. Ärgerlich ist, dass Kehl für das Abwehrtalent Filippo Mane, dessen Bundesligadebüt gegen den FC St. Pauli krass unglücklich verlaufen ist, keinen Leihverein gefunden hat. Denn Mane verfügt ohne Zweifel über besondere Ansätze, braucht aber noch Zeit und vor allem Spielpraxis, um sich an den Männerfußball zu gewöhnen, Spielpraxis auf einem Nievau, wie er sie in der Regionalliga jedoch nicht bekommen wird. Im kommenden Sommer hat der BVB dann eine Rückkaufoption für Tom Rothe, der eine der beiden Planstellen von Süle oder Can übernehmen könnte. Extrem ärgerlich und Kehl schwer anzulasten ist, dass es eine solche Klausel nicht für Nnamdi Collins, der aus der BVB-Jugend stammt und bei Eintracht Frankfurt zum Nationalspieler geworden ist, gibt. Denn Mane, Rothe und Collins neben Anselimo, Schlotterbeck, Anton und gegebenfalls noch Bensebaini – das wäre eine im kommenden Jahr Top-Abwehr und ein Zeichen für langfristige Kaderplanung, die man beim BVB zuletzt zurecht vermisst hat.

Last but not least: Das Tor. Kehl hat die Planstelle von Marcel Lotka mit Patrick Drewes besetzt. Damit reist der BVB immer mit zwei Ersatztorhütern, Alexander Meyer, der wohl besten Nummer 2 der Liga, und eben Drewes zu allen Spielen. Vorteil: Talent Silas Ostrzinski kann immer Spielpraxis in der Regionalliga sammeln. Die Nummer 1 ist auch in dieser Saison Gregor Kobel. Das passt. Sollte Kobel im kommenden Sommer wechseln wollen, hat Kehl mit Diant Ramaj bereits seinen Nachfolger verpflichtet. Kurzum: Die Torwartposition beim BVB ist definitiv keine Problemzone, kurz- und mittelfristig.

Der BVB-Kader ist in dieser Saison besser besetzt als in der vergangenen. Das zeigt: In diesem Sommer hat Sebastian Kehl einen guten Job gemacht.

Aber viele Probleme, die der BVB in seiner Kadergestaltung hat, teure Spieler, die hinter den Erwartungen zurückbleiben, Talente, die nicht hinreichend gefördert werden, gehen auch auf Kehls Kappe. In der Vergangenheit hat der Sportdirektor also eher fehleranfällig gearbeitet.

Der nächste Sommer wird für den BVB von zentraler Bedeutung. Dann werden einige der teuersten Spieler den Verein verlassen, dann kann es einen nachhaltigen Umbruch geben. So wie es Lars Ricken und Sebastian Kehl propagieren: Back tot he BVB-Roots, Talente finden, entwickeln und mit ihnen begeistern.

Spätestens dann wird man sehen, wie gut Sebastian Kehl als Sportdirektor wirklich ist.

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Von admin