Gerade kämpft Jess Carter mit der englischen Nationalmannschaft um den Einzug ins EM-Finale.
Sportlich läuft es also gut.
Doch daneben gibt es Anlass zu Frust und Wut.
Denn die 27-jährige Abwehrspielerin war wegen vermeintlicher Schwächen nach ihren EM-Einsätzen einerseits medial in die Kritik geraten. Doch bei der journalistischen Schelte blieb es nicht: Nach dem Viertelfinalsieg der englischen Lionesses hatte sie dann nämlich andererseits heftige Social-Media-Angriffe öffentlich gemacht. Rassistische Beleidigungen, feige Drohungen – kurz: Menschenverachtender Müll prasselte im ganz großen Spiel auf Jess Carter ein. Der englische Fußballverband FA (Football Association) arbeitet darum jetzt mit der Polizei daran, die Verantwortlichen für die Hassnachrichten zu ermitteln und dann auch vor Gericht zu bringen.
Carter selbst hatte die Hassnachrichten bei Instagram öffentlich gemacht. „Seit Beginn des Turniers habe ich viele rassistische Anfeindungen erlebt“, schrieb sie auf Instagram. „Auch wenn ich finde, dass jeder Fan das Recht auf eine Meinung zu Leistung und Ergebnis hat, halte ich es nicht für richtig oder akzeptabel, jemanden wegen seines Aussehens oder seiner Herkunft ins Visier zu nehmen.“
Solidarität erhält Carter dabei auch – zum Beispiel aus der Politik: Englands Premierminister Keir Starmer schreibt zum Beispiel bei Twitter: „Es gibt dafür weder im Fußball noch in der Gesellschaft einen Platz. Ich stehe an der Seite von Jess, bei den Lionesses und jeder anderen Spielerin, die Rassismus auf oder neben dem Platz erleiden musste.“
Starmer spricht dabei einen wichtigen Punkt an. Denn der Hass gegen Carter ist leider kein Einzelfall. Das englische Team hatte zur zunehmenden Gewalt auf social Media darum am Wochenende sogar eine außerordentliche Teamsitzung abgehalten, wie Ex-Weltfußballerin Lucy Bronze bestätigt. Sie sagt: „Je größer der Sport wird, desto lauter wird der Lärm, desto mehr Fans gibt es, aber auch desto mehr Kritiker. Die Online-Beschimpfungen scheinen immer schlimmer zu werden.“
Dass es die englische Nationalspielerin trifft, ist dabei besonders bitter. Denn die Lionesses setzen sich seit vielen Jahren lautstark gegen Rassismus ein. Vor jedem Spiel knien sie rund um den Mittelkreis kurz nieder, der „Knee-Talking“, eine Geste, die aus dem US-Sport kommt und ein Zeichen unter anderem gegen rassistische Polizeigewalt setzen soll. In ihrer Haltung sind die Spielerinnen dabei auch beeindruckend unnachgiebig – ein Chaos wie bei den DFB-Männern um die #OneLove-Binde während der WM in Kater hätte es mit ihnen eher nicht gegeben. Sie hätten durchgezogen. Weil es ihnen ein ehrliches Anliegen ist. Weil Jess Carter eine von ihnen ist. Weil sie Spaltung überwinden wollen.
Doch nach der jüngsten Gewalt gegen die Verlobte von Ann-Kathrin Berger reicht es den englischen Nationalspielerinnen. Heute vor dem EM-Halbfinale gegen Italien haben sie nicht mehr gekniet. Das wird im ersten Moment paradox. Doch „ist diese Botschaft stark genug?“, fragt Lucy Bronze nun zurecht. Und weiter: „Kommt sie wirklich an? Wir haben das Gefühl, dass sie es nicht tut, wenn unseren Spielerinnen im Turnier ihres Lebens so etwas widerfährt.“ Ihre Lionesses-Kollegin Georgia Stanway, die übrigens beim FC Bayern unter Vertrag steht, erklärt: „Diese Geste hat nicht den Erfolg gebracht, den wir uns davon erhofft haben. Darum wollen wir stehen bleiben. Und wollen so die Aufmerksamkeit auf das Thema lenken.“ Es ist eine paradoxe Interventition: Der Kampf gegen Rassismus darf nicht zu einem beiläufigen Ritual werden, nein, das Thema gehört in den Fokus gerückt. Das ist ganz eindeutig die größere Geste. Und sie ist wichtig.
Doch bei Gesten darf es nicht bleiben. Das sieht auch Sanjay Bhandari von der Anti-Rassismus-Kampagne „Kick it out“ so. Spielerinnen schildern ihm gegenüber, dass mit der steigenden Popularität des Frauenfußballs auch der Hass im Umfeld zunehme. Bhandari sieht darum vor allem die Social-Media-Plattformen in der Pflicht: „Die Social-Media-Unternehmen haben in den letzten vier oder fünf Jahren tatsächlich Rückschritte gemacht, die Situation ist schlimmer geworden. Sie müssen uns Tools zur Verfügung stellen, die uns schützen und die toxischen Einflüsse auf den Plattformen reduzieren. Sie tun einfach nicht genug.“
In diese Kerbe schlägt auch FIFA-Präsident Gianni Infantino – und lobt sich bei der Gelegenheit auch prompt für das eigene Engagement. Er betonte, dass die Fifa mit ihrem „Social Media Protection Service“ bereits gegen Online-Hass vorgehe.
Doch wie glaubwürdig ist dieses Engagement?
Immerhin hat Infantino politisches Engagement für mehr Menschlichkeit immer wieder blockiert. Stichwort: #OneLove-Binde. Auch den „Knee-Talking“ hat Infantino schon kritisiert, hat die FIFA schon eingeschränkt. Der Weltverband inszeniert sich in Europa gerne als weltoffen, doch gibt diese Haltung sofort auf, wenn sie dem Geschäft schadet. Wer aber zum Beispiel den Kampf gegen Rassismus als Inszenierung nutzt, der befeuert damit nur Rassismus, weil er dem Kampf die Ernsthaftigkeit nimmt.
Doch ein menschlicher Umgang miteinander darf nicht verhandelbar sein. Im Fußball nicht. Und überall sonst auch nicht.
Darum ist es richtig, dass die FA die Täter verfolgen lässt. Dass die Fans beim EM-Halbfinale in der 16. Minute, der Rückennummer Carters, geschlossen applaudiert haben. Dass es in den Stadien überhaupt immer mehr Fanprojekte gibt, die anti-rassistische Arbeit leisten. Dass es immer besser gelingt, Täter zu identifizieren und aus den Kurven zu drängen. Und das gelang – wie die englischen Spielerinnen zurecht anmahnen – nicht durch ritualisierte Aktionen oder FIFA-Werbespots im europäischen Fernsehen, sondern durch konkrete Aktionen, Selbstreflexion, dadurch, dass die Mehrheit der Fans, die Rassismus ablehnt, in die Pflicht genommen wurde, damit die agressive Minderheit ihren Einfluss verliert und dass Täter*innen hart bestraft werden.
Die größere Aufmerksamkeit, welche die Europameisterschaft gerade bekommt, kann vor diesem Hintergrund aber doch auch eine positive(re) Bedeutung bekommen. Denn sie zeigt: Fußball kann Menschen verbinden. Und auf dem Platz wird nunmal immer offensichtlich, dass ohne Vielfalt niemand eine Chance hat. Eine Erkenntnis, die wir alle auch neben dem Platz berherzigen sollten.
Die Lionesses jedenfalls wissen das. Sarina Wiegman hat Jess Carter darum heute Abend auch wieder für die Startelf nominiert: „Jess möchte nach vorne blicken, sie ist stark, sie ist bereit, das Team auch – sie alle wollen kämpfen. Und das sagt auch viel über Jess und die Mannschaft.“
Wir drücken die Daumen.