24 seiner 50 Länderspiele für die brasilianische Nationalmannschaft bestritt Richarlison an der Seite von Neymar.
Wobei – das ist eigentlich nur bedingt richtig. Denn auch wenn Neymar in den letzten Jahren viele Spiele der Seleção verpasst hat, war er bei Richarlison immer mit dabei. Denn Richarlison, selbst Stürmer bei den Tottenham Hotspurs, hat sich seinen Sturmpartner auf den Rücken tattowieren lassen. Nach dem Ausscheiden Brasiliens bei der WM 2022 ließ Richarlison sich das Motiv stechen. Es zeigt übrigens nicht nur Neymar, sondern auch Ronaldo, Brasiliens wohl größte Sturm-Legende.
Außerdem hat sich der Sturmstar übrigens sein eigenes Abbild in die Mitte zwischen seine beiden Vorbilder tattowieren lassen. Das Tattoo wurde inzwischen zudem um weitere Motive ergänzt, darunter ein Kind, das auf eine Favela blickt und ein Richarlison-Trikot trägt – ein Symbol für Herkunft und Träume. Für Richarlison symbolisiert das Tattoo damit auch seinen eigenen Werdegang.
Klingt erstmal abgehoben? So tickt Richarlison keineswegs. Denn während Richarlison auf dem Platz für seine Schnelligkeit, Tore und unermüdliche Einsatzbereitschaft bekannt ist, zeigt er abseits des Spielfelds ein ebenso beeindruckendes Profil: als sozial engagierter Mensch, der seine Stimme und Mittel konsequent für benachteiligte Gruppen einsetzt.
Aufgewachsen in einer armen Favela in Nova Venécia im brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo, hat Richarlison seine Herkunft nie vergessen. Statt sich im Glanz der Fußballwelt zu verlieren, nutzt er seine Popularität, um auf soziale Ungleichheit, Armut und Bildungslücken aufmerksam zu machen. Bereits früh in seiner Karriere unterstützte er lokale Initiativen in seiner Heimatstadt – etwa durch Spenden für Schulprojekte, Sporteinrichtungen und medizinische Hilfe. Während der Corona-Pandemie finanzierte er so unter anderem Schutzmaßnahmen, Sauerstoffflaschen und Grundnahrungsmittel für Bedürftige. Ein weiterer bemerkenswerter Schritt ist sein Engagement als Botschafter für Bildungskampagnen, mit dem Ziel, Kindern in armen Regionen Zugang zu Schule und Perspektiven zu verschaffen. Insgesamt spendet er mindestens 10% seines Einkommens.
Auch in politischen Fragen bezieht der Nationalspieler Stellung – etwa gegen Rassismus, soziale Ungleichheit, Umweltzerstörung oder queerfeindliche Äußerungen. Anders als viele Profis scheut Richarlison dabei nicht den Konflikt, sondern nutzt seine Plattform bewusst für gesellschaftlichen Diskurs. Ein Beispiel: Bei einem Testspiel der Nationalmannschaft am 27. September 2022 in Paris gegen Tunesien wurde Richarlison nach seinem Tor mit einer Banane beworfen. Er kommentierte den Vorfall auf Twitter: „Solange sie weiterhin ‚bla bla bla‘ sagen und nicht bestrafen, wird es so weitergehen, jeden Tag und überall. Dafür ist keine Zeit mehr.“ Seine Haltung zeigte er auch rund um die letzten Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Jair Bolsonaro, ein Rechtsradikaler und bis dahin Präsident Brasiliens, zeigte sich genauso wie seine Anhänger*innen gerne im Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft. Richarlison widersprach dieser Vereinnahmung deutlich und nutze seine Reichweite in dieser Zeit, um eindrücklich für die Gegenpositionen zu Bolsonaros-Programm zu werben.
An dieser Stelle aber wird sein Tatoo wieder spannend. Denn sowohl Ronaldo als auch Neymar unterstützten Jair Bolsonaro. Neymar wurde besonders deutlich. Kurz vor dem Wahlgang veröffentlichte der PSG-Star ein Video, in dem er lächelnd ein Lied mit dem Refrain „Vote 22“ – der Nummer Bolsonaros auf dem Wahlzettel – mitsang. Auf Social Media rief er seine Follower zur Wahl des Präsidenten auf. Laut Berichten soll seine Unterstützung auch mit politischen Gegenleistungen zusammenhängen: Neymar wurde vorgeworfen, sich Steuererleichterungen für seine Stiftung oder Unterstützung in seinen persönlichen Steuerkonflikten zu erhoffen, es heißt, er habe sogar einen Deal mit ihm gemacht. Ein Vorwurf, den er selbst nie dementierte. Auch Ronaldo, mittlerweile Clubbesitzer und Unternehmer, sprach sich öffentlich für Bolsonaro aus. In Interviews begründete er seine Unterstützung mit wirtschaftlicher Stabilität, unternehmerfreundlicher Politik und dem Wunsch nach politischer Kontinuität. Dabei ignorierten beide die zunehmenden soziale Spannungen und demokratische Rückschritte unter Bolsonaro, die sogar in einem versuchten Staatsstreich endeten, für den der Ex-Präsident inzwischen rechtskräftig verurteilt ist.
Dass Fußballer in Brasilien sich politisch engagieren ist nicht ungewöhnlich. Viele sind sich ihrer Bedeutung bewusst und wollen sie nutzen. Während der brasilianischen Militärdiktatur engagierten sich nicht nur die Spieler von Corinthians, über die FanLeben.de hier berichtet hat, für die Rückkehr zur Demokratie. Auch Spendensammlungen und soziales Engagement in den Vorstädten waren noch nie eine Seltenheit. So trugen viele Fußballer über Jahre maßgeblich zum sozialen Zusammenhalt in Brasilien bei. Doch so krasse Ausmaße wie vor der vergangenen Präsidentschaftswahl hat der Fußball-Wahlkampf vorher noch nie angenommen. Und das ausgerechnet für einen Rechtsradikalen. Denn neben Neymar und Ronaldo warben unter anderem auch Ronaldinho, Kaka, Dani Alves, Rivaldo und Cafú, immerhin Kapitän der letzten Weltmeistermannschaft Brasiliens, aber auch Gabriel Jesus von Arsenal London und Thiago Silva, der unter anderem für Chelsea und Paris St. Germain spielte, erbittert für den Rechtsradikalen Bolsonaro.
Aber warum? „Die große Mehrheit der Spieler stammt aus armen Familien. Sie gehen nach Europa. Dort verdienen sie viel Geld und vergessen ihre Wurzeln“, sagt der ehemalige Fußballnationalspieler Walter Casagrande. In seiner aktiven Zeit etzte er mit einigen Mitspielern auf dem Platz immer wieder Zeichen gegen Brasiliens Militärdiktatur. Entsprechend schwer fällt es ihm mit anzusehen, wie seine Nachfolger einen Diktatur-Anhänger unterstützen. „30 Millionen Brasilianer hungern. Aber die Spieler im Ausland leben gut. Für sie muss sich in Brasilien nichts ändern. Es ist ein riesengroßer Egoismus.“ Aber Casagrande glaubt auch nicht, dass viele Spieler überzeugte Bolsonaro-Anhänger sind. „Ich weigere mich zu glauben, dass sie wirklich wissen, was Faschismus ist. Die große Mehrheit schwimmt mit dem Strom.“ Oder hätte – wie Neymar in seinem Steuerverfahren – tatsächlich ganu billige, private Motive, denen sie ihren Gemeinsinn und ihre Verantwortung als reichweitenstarke Spitzensportler opfern. Vor drei Jahren nahm Bolsonaro Neymar öffentlich auch in Schutz, als Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn laut wurden. Ein Ermittlungsverfahren gegen Neymar wurde daraufhin sogar eingestellt. „Der Präsidenten hilft den Spielern. Und die helfen später dem Präsidenten“, bringt es Casagrande auf den Punkt. Es ist ein Netz von Gefälligkeiten – naja, genau genommen ist es Korruption.
Eine weitere Erklärung ist die Religion. Die ultrakonservativen Pfingstkirchen haben immer mehr Zulauf in Brasilien, in zehn Jahren könnten sie zur größten Religionsgemeinschaft werden. Gerade in den armen Vorstädten sind die Kirchen beliebt. Viele Fußballspieler sind in diesem Umfeld groß geworden. Der heutige Fußballkommentator Casagrande erklärt: „Sie unterstützen Bolsonaro, weil er von Gott spricht. Aber das ist eine Lüge. Er benutzt den Glauben, um die Menschen zu manipulieren.“
Bolsonaro verlor die Präsidentschaftswahlen trotzdem – zwar denkbar knapp und endgültig erst in der Stichwahl, dennoch. Das brasilianische Nationaltrikot, das er und seine Anhänger*innen während seiner Amtszeit oft zu Kundgebungen trugen, verschwand daraufhin eine Zeit lang aus der Öffentlichkeit. Erst langsam spielt es wieder eine Rolle – unabhängig vom Ex-Präsidenten. Auch die Spieler, die im Wahlkampf intensiv an seiner Seite standen, äußern sich heute nicht mehr zu ihm. Immerhin. Aber: Auch nicht zu den Verbrechen während seiner Amtszeit. Reue oder Aufarbeitung gibt es nicht. Nur langsame Aussöhnung.
Die Präsidentschaftswahlen fanden dabei im Oktober 2022 statt – also noch bevor sich Richarlison das Tattoo stechen liest. Stellt sich eindeutig diese Frage: Wie bitte kann es sein, dass sich Richarlison, der ja so gegenteilige politische Ansichten vertritt wie Neymar und Ronaldo, in einem politischen Klima, in dem wirklich alles auf dem Spiel stand, von der Demokratie über den Schutz des Regenwaldes bis hin zu Maßnahmen für den Gesundheitsschutz, dieses Tattoo stechen lässt?
Der Stürmer beantwortete es so: „Ronaldo war mein Held, als ich mit dem Fußball begann. Neymar ist aus meiner Generation, aber ein paar Jahre älter – ich wollte so spielen wie er und dieselben Haare haben. Und dann fügte ich mich selbst hinzu, weil ich mich auch von mir selbst inspiriere.“ Ihm ging es also um seinen Weg als Fußballer, den er ohne seine Vorbilder, so ist Richarlison überzeugt, nicht hätte gehen können. Und so ist Richarlison auch überzeugt, dass er ohne sie weder Reichweite noch Vermögen bekommen hätte, um sich heute für die Themen, die ihm wichtig sind, zu engagieren. Ganz gleich, dass seine Vorbilder seine Werte nicht teilen. Eine spannende Haltung, zielt sie doch passenderweise auch auf Vergebung ab und darauf, an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Auch wenn sie gleichzeitig offensichtlich extrem widersprüchlich ist.
Neymar jedenfalls sah das Tattoo nicht so entspannt. Er bot Richarlison rund 30.000 Euro an, damit er sein Gesicht aus dem Rücken-Tattoo entfernen lässt. Offiziell begründete Neymar das damit, dass er die Verwendung seines eigen Bildes kontrollieren wolle. Doch spätestens nachdem er kurz darauf Richarlison mit all seinen Social-Media-Profilen blockierte liegt nahe, dass zumindest er auch einen persönlichen, politisch begründeten, Konflikt mit Richarlison sieht. Da war seitens Neymar also wenig Raum für Vergebung, dafür, dass Gute in jedem Menschen zu sehen. Bis heute soll die persönliche Beziehung der beiden angespannt geblieben sein.
Jair Bolsonaro muss aktuell eine Fußfessel tragen und steht nachts unter Hausarest. Von weiteren Kandidaturen wurde er gerichtlich ausgeschlossen. Ihm drohen weitere Verurteilungen und unter anderem eine Haftstrafe.
Neymar hat die letzten Jahre in Saudi-Arabien gespielt. Wurde dort aber aussortiert und lässt seine Karriere nun in seiner Heimat bei seinem Jugendklub FC Santos ausklingen. Er wird trotz allem wieder regelmäßig zur Seleção eingeladen.
Richarlison aber auch. Er spielt zudem auch noch in Europa, weiterhin bei Tottenham und hat mit den Spurs gerade erst die UEFA Conference League gewonnen. Wie üblich hat er daraufhin direkt 10% seines Preisgeldes gespendet.