Der Videobewis in der Bundesliga ist in seiner achten Saison. Und so richtig glücklich ist trotzdem noch niemand damit. Da sind jedes Wochenende strittige VAR-Entscheidungen in der ersten und zweiten Bundesliga. Und da sind jedes Wochenende stritte Schiedsrichter-Entscheidungen von der dritten Liga aus abwärts, wo es den Videoassistenten ja (immer) noch nicht gibt.
Die Kritiker*innen bemängeln zurecht: Der Videobeweis sollte für möglichst viel Objektivität sorgen – das aber gelingt ihm selbst bei vermeintlichen Tatsachenentscheidungen wie Abseitsstellungen nicht immer. Und immer wieder sind auch Szenen spielentscheidend, bei denen der VAR nicht eingreifen kann, wie gelbe oder gelb-rote Karten. Dazu kommen oft gefühlt ewig lange, tatsächlich bisweilen mehr als fünf Minuten dauernde Spielunterbrechungen, wenn besonders kritische Szenen gecheckt werden. So viel übrigens zum Begriff der eindeutigen Fehlentscheidungen, bei denen der Videoschiedsrichter ursprünglich überhaupt nur eingreifen sollte.
Fakt ist aber auch: Jedes Wochenende werden Fehlentscheidungen von Schiedsrichter*innen mit Hilfe des Videobeweises korrigiert. Insgesamt sind die Spiele durch den VAR fairer worden. Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Ist näher an der Korrektheit genug für ein Tool, von dem sich alle ursprünglich die Wahrheitfindung versprachen?
Bei der U17-Weltmeisterschaft der Männer, die gerade übrigens, wie sollte es bei einem FIFA-Tunier auch anders sein, in Katar ausgetragen wird, testet der Weltverband darum eine Alternative zum Videoschiedsrichter. Eine Alternative, die auch in Deutschland bereits immer wieder diskutiert wurde: Die sogenannte Challange-Regel. Mit einer „Challenge“ können Trainer*innen die Prüfung einer konkreten Schiedsrichterentscheidung einfordern. Pro Halbzeit hat jede Mannschaft einmal die Möglichkeit zur „Challange“. Der Schiedsrichter schaut sich dann – wie man es aus der Bundesliga kennt – an einen Monitor am Spielfeldrand die zu überprüfende Szene noch einmal an und bewertet sie gegebenenfalls neu. Gibt er der challangenden Mannschaft Recht, behält die ihre „Challange“-Möglichkeit, bleibt der Schiedsrichter hingegen bei seiner Bewertung, darf der entsprechende Trainer erst in der nächsten Halbzeit wieder eine Schiedsrichterentscheidung überprüfen lassen. So soll für einen sorgsamen Einsatz garantiert werden.
Die Regelhüter*innen bei der FIFA erklären den Einsatz übrigens so: „Der Antrag muss sofort nach dem Vorfall gestellt werden, indem die jeweilige Person einen Finger in der Luft kreisen lässt und dem vierten Offiziellen eine Karte zur Beantragung einer Videoüberprüfung überreicht“. Praktisch gibt es auf den Trainerbänken dafür ein Tablet, auf dem Szenen sofort in der Wiederholung angesehen werden können. So geht keine Szene verloren und die Trainer*innen können gut abschätzen, ob sich beim jeweiligen Vorfall eine „Challange“ auch tatsächlich lohnt. Beim DFB sucht derzeit U17-CO-Trainer Jens Nowotny die strittigen Szenen raus.
Die Regel kommt dabei nicht nur bei der aktuellen Jugend-WM zum Einsatz. Seit Anfang des Jahres erlaubt das für Regelfragen zuständige International Football Association Board die Anwendung auch bei nationalen Wettbewerben. Und einige sind dabei: In Spanien haben die oberste Liga der Frauen und die 3. Liga der Männer dadurch nun technische Hilfsmittel für die Unparteiischen. Dasselbe gilt für die Serie C der Männer in Italien, die Serie A der Frauen beginnt aktuell mit Tests. Auch in einigen Wettbewerben Brasilien kommt die „Challange-Regel“ zum Einsatz.
Ihr Vorteil: Die Mannschaften können aktiver an der Entscheidungsfindung beziehungsweise der Regelhütung mitwirken. Aktuell fühlen sich viele Trainer*innen und ihre Teams dem VAR ja tendenziell eher ausgeliefert. Beim challangen tragen sie nun selbst mit Verantwortung. Daneben gibt es noch einen Vorteil: Der bisherige VAR ist technisch aufwendig, die Umsetzung entsprechend teuer. Die Video-Support-Lösung hier ist einfacher umzusetzen und dadurch deutlich günstiger, weil kein separates Studio und kein Übertragungswagen gebraucht werden. Außerdem braucht man weniger aktive Schiedsrichter*innen, nämlich keine Videoschiedsrichter*innen, pro Spiel. Ein großes Plus: Die Einheitlichkeit des Spiels kann so gefördert werden. Auch in unteren Spielklassen und in den ersten Spielrunden des DFB-Pokals wäre die Anwendung der „Challange-Regel“ ohne immense Investitionskosten möglich. Der Amateurfußball würde dem Profifußball damit wieder ähnlicher, es würde wieder mehr ein Spiel für alle. Wobei es natürlich den Haken gibt, dass es, je größer das mediale Interesse an einem Spiel ist, es entsprechend mehr Kameras und damit mehr Kameraperspektiven vor Ort gibt und je mehr Kameraperspektiven es gibt, desto einfacher ist es, eine Szene zu überprüfen. Die vollkommene Gleichheit garantiert also auch diese Regel nicht.
Beim DFB ist man trotzdem verhalten optimistisch: „Technische Weiterentwicklungen und neu getestete Modelle behalten wir immer im Auge. Allerdings müssen erst die Erkenntnisse aus diesen Tests und Pilot-Einsätzen abgewartet werden.“ Die Eindrücke in Katar sind aber durchaus positiv. Die meisten angesprochenen Anwender*innen und auch die Schiedsrichter*innen zeigen sich durchaus zufrieden.
Kein Wunder. Der bisherige VAR ist längst zum Politikum geworden. Spieler, Trainer und Fans – alle fühlen sich bei strittigen Videoentscheidungen oft übergangen. Und die Schiedsrichter auf dem Feld wirken in fast jedem Spiel schwächer als sie sind. Die „Challange-Regel“ hingegen stärkt ihre Rollle wieder. Und sie gibt – während sie zu einem verantwortungsbewussten Einsatz anhält – den beteiligten Mannschaften die Möglichkeit, bei kritischen Szenen zu intervenieren. Krasse Fehlentscheidungen können so korrigiert, das Spiel gerechter werden.
Beim DFB sollte man den Erfinder*innen der „Challange-Regel“ darum dankbar sein. Denn sie könnte der Ausweg aus dem Videobeweis-Dilemma sein, in dem sich der DFB seit nun mehr acht Jahren befindet.
