Es gibt Geschichten, die wiederholen sich.

Ann-Kathrin Berger zum Beispiel, die Torhüter der deutschen Nationalmannschaft, wird immer zur Heldin, wenn es ins Elfmeterschießen geht. Das war schon bei Olympia 2024 so, ihrem ersten Turnier als deutsche Nummer eins. Da hielt sie zwei Elfmeter und verwandelte einen auch noch selbst. Und das war am Samstag so – wieder im Viertelfinale, dieses Mal bei der Europameisterschaft, als sie erneut zwei Elfmeter hielt und einen selbst verwandelte.

Aber auch diese Geschichte beginnt sich gerade zusehends zu wiederholen: Christian Wück ist ein Turniertrainer. Als Trainer der (männlichen) U17-Nationalmannschaft wurde er erst Europa- und dann auch Weltmeister. Bei seinen U17-Triumphen mussten Wücks Mannschaften mehrfach mit Rückschlägen, Verletzungen, Sperren, umgehen, mussten mehrfach bis ins Elfmeterschießen, taten sich also gegen (Mit-)Favoriten erwartbar schwer. Doch sie behielt stets den längeren Atem.

Das beides erinnert dann auch ein wenig an die Männer-WM 2014, bei der viele das kräftezehrende Achtelfinale gegen Algerien, das erste Spiel nach der Gruppenphase, wie das Frankreich-Spiel der Frauen am Samstag, in der sich Deutschland erst in der Verlängerung das Weiterkommen sicherte, als positiven Wendepunkt, der den Teamspirit auf eine neue Ebene hob. Bei der WM 2014 spielten die Herren im Viertelfinale auch gegen Frankreich.

Zum WM-Titel der Herren gibt es aber noch eine weitere Parrallele: Die Planbarkeit des Erfolgs. Seit 2006 bastelte Jogi Löw an der Mannschaft, die 2014 den WM-Titel holte. Spieler hatten Zeit sich zu entwickeln. Auch die Wück-Verpflichtung als Frauen-Bundestrainer setzt auf eben diese Nachhaltigkeit. Denn eigentlich war sie mit einem gewaltigen Risiko verbunden: Christian Wück kommt immerhin aus dem Männer-Fußball, hatte vor einem Engagement als Bundestrainer kaum Berührungspunkte mit den Frauen-Teams. Trotzdem hatte er nicht lange gezögert, seinen fußballerischen Fokus zu verlagern: „Als die Anfrage kam, habe ich nicht lange gezögert: Dieses Team zu coachen, die vorhandene individuelle Qualität der Spielerinnen weiterzuentwickeln und die Mannschaft damit auch zukunftsfähig für Erfolge zu machen, zählt zu den spannendsten und verantwortungsvollsten Aufgaben im deutschen Fußball.“ Braucht aber eben auch eine gewissenhafte Einarbeitung. Deswegen entschied Sportdirektorin Nia Künzer, die die Wück-Verpflichtung übrigens am Weltfrauentag 2024 verkündete, dass der neue Coach nicht sofort, sondern erst nach der EM-Qualifikation und nach Olympia von Hrubesch übernehmen sollte, so verschaffte sie Wück Zeit, die Nationalmannschaft zunächst als Beobachter kennenzulernen und auch die Bundesliga und andere europäische Top-Ligen, in denen deutsche Nationalspielerinnen unterwegs sind, anzuschauen.

Aber natürlich genügt anekdotische Evidenz nicht für einen EM-Sieg. Jedes Turnier wird – Achtung, Phrase – aufs Neue auf den Platz entschieden. Und da macht Hoffnung, dass die Nationalspielerinnen Wücks Spielstil immer besser verinnerlichen. Sie suchen, zumindest solange elf gegen elf gespielt wird, mit hohem Pressing die Spielkontrolle, erarbeiten sich mit dem Ball durch cleveres Passpiel viele Chancen und können den fordernden Fußball-Ansatz Wücks locker tragen. Insbesondere die individuelle Qualität der Spielmacherinnen Linda Dallmann und Klara Bühl, von Konterspezialistin Jule Brand oder Allrounderin Sjoeke Nüsken sind hier hervorzuheben, auch wenn das Gleichgewicht zwischen Aggressivität im Pressing und Stabilität in der Verteidigung manchmal noch fehlt – in den letzten beiden Spielen, in denen Deutschland jeweils früh mit einer roten Karte klarkommen musste, zeigte sich das auf besonders bittere Art und Weise. Doch anders als nach dem Platzverweis gegen Charlotta Wamser im Spiel gegen Schweden, fiel die deutsche Elf in Unterzahl gegen Frankreich nicht auseinander, sondern kämpfte sich ins Spiel zurück. Beziehungsweise bis ins eingangs erwähnte Elfmeterschießen.

Apropos: Auch hier drängt sich ein historischer Vergleich auf. Denn wie Jens Lehmann bei der Weltmeisterschaft 2006 hatte am Samstag auch Ann-Kathrin Berger einen Spickzettel an der Trinkflasche kleben, auf dem stand, wie welche Schützin schießen könnte. Berger sagt zwar, sie habe vor Aufregung „ganz vergessen“ auf den Zettel zu gucken – dafür stand sie extrem cool und mit hinterm Rücken verschränkten Armen auf der Linie. Auch Lehmann nutzte seinen Spickzettel 2006 ja vor allem für Psychospielchen.

Aber zurück zum Sportlichen. Denn da kommt ja auch noch dazu, dass die Mannschaft sich an außergewöhnliche Situationen schnell anpassen kann. Sie musste bereits mehrere schmerzhafte Verletzungen wegstecken und eben die beiden direkten Platzverweise gegen Wamser und Kathy Hendrich. Das ist, wenn man individuell tendenziell unterlegen ist, oft der rettende Faktor.

Dafür arbeitet die Mannschaft aber natürlich auch hart an sich. Manche übrigens mit externer Hilfe: So berichtete Ann-Kathrin Berger nach dem Thriller-Sieg im Viertelfinale, dass jetzt eine strenge Spielanalyse auf sie wartet. Und zwar von Opa Herbert. Opa Herbert, 92 Jahre, ist nämlich ihr wichtigster Kritiker. „Er ist sehr liebenswert, aber auch sehr streng«, hatte Berger über ihn erzählt. »Er findet jeden Fehler.“ Und weil sie sich selbst gut kennt, weiß sie auch, was kommen könnte: „Ich bin bei einem Elfmeter zu früh gesprungen – das wird mein Opa gesehen haben.“ Auch von Christian Wück erwartet die Torhüterin noch Kritik: „Ich kriege wahrscheinlich noch ein bisschen Ärger vom Bundestrainer, weil ich immer in die gleiche Ecke beim Elfmeter springe.“

Naja.

War schon okay.

Vor allem, weil es noch eine historische Parrallele gab: Wie Manuel Neuer im WM-Viertelfinale gegen Frankreich, zeigte auch Ann-Kathrin Berger im laufenden Spiel eine gigantische Parade: In der Verlängerung verlängerte Janina Minge eine Flanke der Französinnen unglücklich mit dem Kopf, doch Berger wehrte den Ball mit einem Hechtsprung nach hinten gerade noch ab. Die Rettungstat wird in jedem Highlight-Video dieser EM zu sehen sein und auch noch lange danach.

Jetzt aber geht es erstmal gegen Spanien. Die spanische Frauenfußballnationalmannschaft zählt derzeit zu den besten Teams der Welt – nicht zuletzt, weil sie mit Spielerinnen wie Aitana Bonmatí, Alexia Putellas und Salma Paralluelo über herausragende individuelle Klasse verfügt. Bonmatí, aktuelle Weltfußballerin des Jahres, verkörpert die spielerische Eleganz und das taktische Verständnis, das Spaniens Spiel prägt. Viele Nationalspielerinnen stehen beim FC Barcelona unter Vertrag, der zuletzt die UEFA Women’s Champions League dominierte und damit auch auf Vereinsebene die Vormachtstellung Spaniens unterstreicht.

Die deutsche Nationalmannschaft braucht eine Topleistung, um dieses Spiel zu gewinnen. Charlotta Wamser kehrt dabei ins Team zurück, Kathy Henrich ist dafür gesperrt. Ein Einsatz von Sarai Linder, die gegen Frankreich früh verletzt ausgewechselt wurde, ist mindestens fraglich. Aber Sophia Kleinherne hat ihre Sache gegen Frankreich genauso wie EM-Debütantin Franziska Kett mehr als gut gemacht, so dass es mit der Wamser-Rückkehr unterm Strich mehr Optionen für Bundestrainer Wück geben wird als beim letzten Spiel. Optimismus ist also berechtigt – und wird im DFB-Team gelebt, wie Neu-Kapitänin Janina Minge, die das Amt für die verletzte Giulia Gwinn übernommen hat, vorlebt: „Man hat gesehen: Wir sind für Großes bereit, für Großes fähig.“

Trotzdem rechnen gerade immer noch viele damit, dass Spanien diese Europameisterschaft gewinnt. Genauso wie 2014 alle damit rechneten, dass Brasilien Weltmeister wird. Brasilien scheiterte im Halbfinale gegen Deutschland. Mittwoch heißt es dann auch bei der EM dann Halbfinale. Deutschland wieder gegen die Turnierfavoritinnen.

Hoffen wir, dass auch das eine Geschichte wird, die sich wiederholt.

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Von admin