Die Geschichte war eigentlich auch zu schön um wahr zu sein.

Nick Woltemade wechselte im letzten Sommer ablösefrei von seinem Ausbildungsverein Werder Bremen zum VfB Stuttgart. Und erfüllte sich damit, so gab er rasch zu Protokoll, einen Traum: Der VfB Stuttgart sei nämlich schon immer sein Lieblingsverein gewesen. Profifußballer, die als Kinder in der Bettwäsche immer genau des Vereins geschlafen haben (wollen), zu dem sie gerade wechseln, gibt es dabei natürlich zuhauf. Bei Woltemade ging die Zuneigung aber noch weiter: Der Stürmer plauderte aus, dass der junge Nick in der Werder-Jugend einmal der Kabine verwiesen worden sei, weil er nach einem Spiel unter der Dusche die VfB Stuttgart Hymne anstimmte. Die Liebe zum VfB Stuttgart habe er dabei, wie so viele Fußballfans, von seinem Vater geerbt. Die Entscheidung, seinen Ausbildungsverein ablösefrei zu verlassen, sei Vater und Sohn deswegen auch leicht gefallen, als sie das Angebot des VfB Stuttgart erhielten.

Und klar – für den Schritt sprach vieles. Neben der offenbar emotionalen Bindung von Nick Woltemade zu seinem neuen Arbeitgeber arbeitete beim VfB Stuttgart ja zum Beispiel auch Sebatian Hoeneß als Trainer, der nachgewiesen hat, dass er junge Spieler hervorragend entwickeln kann. Dazu der schnelle und doch technisch-anspruchsvolle Spielstil des VfB Stuttgart, der auf seine Angreifer zugeschnitten ist.

Andererseits – Andererseits hatte Werder Bremen Nick Woltemade bis dahin über Jahre ausgebildet und strategisch auf den Profifußball vorbereitet. Als er zum Beispiel schon zu weit für Werders zweite Mannschaft aber noch nicht weit genug für die Bundesliga war, verlieh Werder Woltemade. Und zwar an den SV Elversberg, zu Horst Steffen, einem Trainer, der für technisch-anspruchsvollen Fußball steht, mit klarem Fokus auf die Offensivaktionen. Nicht nur, dass diese Art Fußball zu spielen, Woltemade bekanntlich liegt, sie ist auch ideal dafür, junge Stürmer zu entwickeln, weil sie viele Ballaktionen, viel Verantwortung für das Spiel haben. Das ging auf: Woltemade, der zwar etwas Zeit brauchte, um sich an den Profifußball anzupassen, war spätestens in der Rückrunde Leistungsträger bei den Saarländern und kehrte nach der Rückrunde selbstbewusst ins Bundesliga-Bremen zurück. Mit einer Ablöse hätte Woltemade Werder für seine gute Ausbildung an der Weser entschädigen können, aber wer im modernen Profifußball ernsthaft so argumentiert, ist naiv.

Apropos naiv: Seit einem Jahr lebt Nick Woltemade nun seinen Traum im Schwabenland, pardon: Ländle. Und das ganz schön erfolgreich: 12 Treffer gelangen ihm in der Bundesliga, 5 weitere trug er zum Pokalsieg der Stuttgarter bei. Längst ist er darum auch fester Bestandteil der deutschen A-Nationalmannschaft, trotzdem spielte er im Sommer noch mit der U21 die Europameisterschaft, führte das Team immerhin bis ins Finale.

Nur der Traum beim VfB Stuttgart scheint schon wieder ausgeträumt. Was mit einem Interview von Aleksandar Pavlovic, der erzählte, dass er versucht Woltemade während der U21-EM von einem Bayern-Wechsel zu überzeugen, wurde zu einer regelrechten Transferposse. Nick Woltemade war sich mit dem FC Bayern über einen Wechsel einig, Vertrag bis 2030, höheres Gehalt. Dafür wollte er, aller Liebe zum VfB zum trotz, schon diesen Sommer aus Stuttgart weiterziehen. Für die Bayern eine logische Überlegung, findet auch deren Sportdirektor Christoph Freund: „Er ist ein junger deutscher Spieler, der sehr, sehr interessant ist.“ Spannend vor allem, dass Woltemade einerseits ein entwicklungsfähiger Back-up für Stammstürmer Harry Kane wäre, aber auch mit ihm im Doppelsturm agieren oder hinter ihm den Musiala-Back-up geben könnte. Und das dauerhaft, mit der Hoffnung, Kane irgendwann abzulösen, immerhin wird der England-Kapitän auch schon 32. Die Bayern sollen für Woltemade bis zu 60 Millionen Euro geboten haben. Der VfB Stuttgart war daraufhin noch nicht einmal zu offiziellen Verhandlungen bereit. Viele Fans, beider Lager, kritisierten VfB-Boss Wehrle dafür. Die Bayern-Fans waren wütend, ihren Wunschspieler nicht zu bekommen. Die VfB-Fans, dass ihnen Einnahmen deutlich über den bisherigen Marktwert des Spielers entgehen würden. Der Woltemade-Berater wiederum fragte, nachdem VfB-Boss Alexander Wehrle erklärt hatte, seinen Stürmer nur bei einem „außergewöhnlichen Angebot“ gehen lassen zu wollen, was denn ein außergewöhnliches Angebot sei, wenn nicht die 60 Millionen, die Bayern bot.

Die Frage beantwortete Alexander Wehrle nicht. Er blieb hart: „Wir wollen eine gute Saison spielen – mit Nick Woltemade.“ Bisweilen wurde er sogar patzig: „Wir haben uns klar ausgedrückt. Ich verstehe nicht, warum man uns das nicht glaubt.“ Vielleicht, weil jetzt der Saudi-Klub der englischen Premier League, Newcastle United, die Frage des Woltemade-Beraters, was denn ein sehr gutes Angebot sei, beantwortet hat. Über 80 Millionen Euro bieten sie ihn Newcastle nämlich jetzt für den Stürmer. Da ist Wehrle dann doch schwach geworden, Woltemade bekam die Freigabe, er hat sich von seinen Mannschaftskollegen schon verabschiedet und wird nach England wechseln.

Obwohl er doch eigentlich nur zum FC Bayern wollte.

Obwohl der VfB Stuttgart doch sein absoluter Lieblingsverein ist.

Obwohl er Werder Bremen doch so dankbar für die gute und strategische Ausbildung ist.

Naja.

Für den professionellen Vereinsfußball ist es tatsächlich problematisch, wenn talentierte Spieler wie Nick Woltemade ihren Jugendklub ablösefrei verlassen – auch wenn es natürlich, jedoch zu geringe Ausbildungsentschädigungen gibt. Deswegen sollte die DFL darüber nachdenken, verbindliche Weiterverkaufsbeteiligungen in das Transferregelwerk von U23-Spielern einzubauen. Damit würde Werder immerhin jetzt vom erneuten Woltemade-Wechsel profitieren.

Aber auch für die Vermarktbarkeit der Bundesliga ist es besser, wenn junge Spieler nicht bloß jeden Verein als Sprungbrett begreifen, sondern sich gemeinsam mit ihrem Klub nachhaltig entwickeln möchten, denn bei den Fans schafft das Identifikation. Und klar ist auch: Noch ein Jahr unter Sebastian Hoeneß würde auch der fußballerischen Entwicklung von Nick Woltemade und der sportlichen Entwicklung des VfB Stuttgart gut tun.

Für den FC Bayern ist dieser Woltemade-Wechsel übrigens auch das Worst-Case-Szenario. Nicht nur, dass ein Premier-League-Verein ohne direkte Titelambitionen oder Pep Guardiola als Trainer den Münchenern ihren Wunschspieler weggeschnappt hat. Das ist ein herber Rückschlag im Kampf um die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Auch verliert der Rekordmeister damit eine aufgrund von Vielseitigkeit und Entwicklungspotenzialen her ideale Besetzung für die eigene Offensive – erst recht bitter, weil Nick Woltemade als deutscher Nationalspieler eigentlich prädestiniertes Prestigeobjekt der Münchener Kaderplanung wäre. Unter Berücksichtigung der schlechten Nachwuchseinbindung beim FC Bayern ergibt sich so ein diffuses und unstrategisches Bild.

Doch wer weiß: Vielleicht hat Woltemade als Jugendlicher in der Werder-Kabine ja nicht nur vom VfB Stuttgart, sondern auch davon geträumt, einmal den FC Bayern an der Nase herum zu führen, während sein Vater ihn nicht nur für Trikots mit rotem Brustring, sondern auch für prall-gefühlte Sparbücher bei der Sparkasse begeistert hat.

Vielleicht aber ist das mit den Träumen von Nick Woltemade aber auch nur eine nette Geschichte, die man als Fan gerne weiter erzählt, weil man sich mit seinem Lieblingsspieler einfach besser identifizieren kann, wenn der doch eigentlich auch vor allem Fan ist, während da auf dem Rasen längst ein junger Profi steht, der versucht, einfach nur das beste aus seiner Karriere zu machen.

Das ist natürlich sein gutes Recht.

Aber halt wirklich nicht romantisch.

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Von admin