Es war ein Nachbarschaftsduell, kein Revierderby, da sind die Fans von Borussia Mönchengladbach ganz genau, das am letzten Wochenende in der BayArena ausgetragen wurde. Gladbach, zum ersten Mal mit Interimstrainer Eugen Polanski an der Seitenlinie, war bei der Werkself zu Gast und erkämpfte sich mit einem 1:1 einen Achtungserfolg. Viele weitere Großchancen gab es nicht – auch weil Felix Zwayer eine, die es eigentlich hätte geben müssen, mit einer falschen Regelauslegung, die im laufenden Spiel aber überraschender Weise niemanden auffiel, eine weitere verhinderte. It’s time for Regelkunde.

Es läuft die 50. Spielminute. Noch steht es 0:0 zwischen Bayer 04 Leverkusen und der Gladbacher Borussia. So richtig viel ist bislang auch noch nicht passiert: Ein nach VAR-Eingriff aberkanntes Tor durch Jens Castrop in der 23. Minute, zwei gelbe Karten für Gladbach, drei für Leverkusen. Jetzt ist Shuto Machino am Ball, etwa 40 Meter entfernt vom Leverkusener Tor versucht der Gladbacher einen Kunstschuss – und scheitert ziemlich doll. Der Ball kullert Richtung Torauslinie, weit, etwa 13 Meter genau genommen, neben dem Tor von Leverkusens Mark Flekken entfernt.

Und genau hier wird es pikant: Denn auch den Ersatzspielern von Bayer 04, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits hinter ihrem Tor aufwärmen, ist klar, dass dieser Ball unmöglich reingehen wird. Aber nach der Gladbacher-Vorwärtsbewegung, aus der Machinos Kunstschuss mündete, könnte es, wenn die Werkself das Spiel jetzt schnell macht, nun eine Kontersituation für die Gastegber geben. Einer der Ersatzspieler will dabei helfen und spielt den austrudelnden Ball seinem Torwart zu. Das Problem: Der Ersatzspieler steht zum Zeitpunkt seiner Ballberührung mindestens auf der Grundlinie, wenn nicht sogar leicht im Feld. Daran gibt es nach Ansicht der TV-Bilder keinen Zweifel. Der Ball wurde folglich innerhalb des Strafraums gespielt, von einem Spieler, der eigentlich gar nicht auf dem Platz hätte stehen dürfen. Schiedsrichter Zwayer, der wie der zuständige Linienrichter uneingeschränkte Sicht hatte, bemerkte es nicht, die Gladbacher protestierten nicht, Flekken führte den Abstoß aus, das Spiel lief schnell weiter.

Es griff also keiner ein – letzte Saison wäre das noch ganz anders ausgegangen. Da hätte nämlich der VAR eingreifen müssen, weil es nach Regelwerk einen Elfmeter hätte geben müssen, wenn ein Ersatzspieler den Ball im Strafraum berührt. Für diese Regelauslegung gibt es sogar einen Präzidenzfall: Bei Holstein Kiel dürfte man sich daran noch gut erinnen, hatten die Störche doch am 25. Oktober 2019 beim 2:1 gegen den VfL Bochum das zwischenzeitliche 1:1 nur deswegen und eben per Strafstoß kassiert, weil Michael Eberwein als Ersatzspieler einen genauso ungefährlichen Ball knapp im Strafraum abgefangen und dann – wie der Leverkusener am Sonntag auch – zu seinem Torhüter gespielt hatte. Anders als Felix Zwayer bemerkte der Schiedsrichter in Kiel das sogar noch ganz ohne Videoassistent.

Allerdings: Die Elfmeter-Bestrafung für ein solches Fehlverhalten wurde zu Beginn dieser Saison abgeschafft. Ganz im Sinne des Spiels, werden viele sagen, weil ein Elfmeter schon eine immens harte Bestrafung für eine vergleichsweise geringe Unachtsamkeit, in manchen Fällen, wo es mit Vorsatz passiert, eine solche Unsportlichkeit ist. Damit ist der VAR zwar raus, geahndet werden hätte der Eingriff des Leverkusener Ersatzspielers aber trotzdem müssen. Nach neuer Regelauslegung so: Mit einem indirekten Freistoß von der Stelle aus, an welcher der Ersatzspieler den Ball berührt hat, so steht es in Regel 9. Für Gladbach hätte es also einen indirekten Freistoß von der Grundlinie aus geben müssen, noch im Strafraum, eine Situation, die verdammt gefährlich hätte werden können.

In der Realität brauchte Malik Tillman die Leverkusener 20 Minuten später in Führung (70.), für die Fohlen glich Haris Tabakovic erst in der Nachspielzeit aus (92.). Ob Gladbach nach dem indirekten Freistoß stattdessen in Führung gegangen wäre und wie das Spiel dann ausgegangen wäre – niemand wird es jemals erfahren.

So dramatisch ist das natürlich erstmal nicht. Und Felix Zwayer und sein Schiedsrichter-Team trifft auch keine schwere Schuld, eine solche Szene kann, zumal zu diesem Zeitpunkt und immerhin 13 Meter vom Tor entfernt, schon einmal übersehen werden. Fair enough. Aber sie zeigt doch die Paradoxität des Videoschiedsrichters und wie schwer es ist, die Grenze zu ziehen, wann er eingreifen sollte und wann eben auch nicht. Denn ein indirekter Freistoß im Strafraum kann eben sehr wohl eine Spielentscheidende Szene sein, sogar viel direkter als eine strittige rote Karte, deren Vergabe selbst nach VAR-Überprüfung ja häufig eben doch immer noch nicht zu 100% eindeutig sind.

Vollkommene Gerechtigkeit kann es im Fußball eben nicht geben. Schiedsrichter*innen aber kommen, selbst ohne VAR, meistens ziemlich nah dran. Das zeigen insbesondere die Spiele in der ersten DFB-Pokalrunde, die meist anstanzlos über die Bühne gehen, obwohl kein VAR dabei ist. Allerdings: Seit der Videoassistent eingeführt wurde, werden viele Situationen, zum Beispiel ziemlich klare Abseitsstellungen, erst einmal weiterlaufen gelassen, um nicht potenziell ein doch legitimes Tor zu verhindern, das aber kostet Zeit und verändert den Spielfluss. Es stellt sich damit einmal mehr die Frage, wie verhältnismäßig der Einsatz Videoschiedsrichter*innen ist, wenn er einerseits das laufende Spiel verändert, aber dabei andererseits keine umfassende Gerechtigkeit herstellen kann.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage lieferte das rheinische Nachbarschaftsduell dabei gleich mit. Denn niemand fiel der Fehler weiter auf, niemand störte ihm, auch im Nachgang, so sehr, dass er die mit ihm einhergehende Ungerechtigkeit anprangerte. Vielleicht also ist gerade dieser Schiedsrichter-Fehler am Sonntag ein guter Anlass, um noch einmal für mehr Zutrauen in unsere Schiedsrichter*innen zu werben – also die auf dem Platz, nicht die im Kölner Keller.

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Von admin